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Autismus-Spektrum-Störungen (Tiefgreifende Entwicklungsstörungen) F.84

Zitiervorschlag: Urtimur, V., Rieß, A. (2020). „Autismus-Spektrum-Störungen“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d03#autismus-spektrum-stoerungen_tiefgreifende_entwicklungsstoerungen_f84, CC BY-SA 4.0

Einordnung und Statistik

ICD 10 bzw. 11

  • F84.0 Frühkindlicher Autismus: Schwere Störung emotionaler und motorischer Entwicklung mit starker Abkapselung; Kontakt- und Wahrnehmungsstörungen, die vor dem dritten Lebensjahr auftreten. Charakteristische Muster beinträchtiger Funktionen in psycho-pathologischen Bereichen: Wechselseitige soziale Interaktion, Kommunikation und im eingeschränkten stereotyp repetitiven Verhalten.
  • F84.1 Atypischer Autismus: Die Unterscheidungen zum frühkindlichen Autismus sind durch einen Krankheitsbeginn nach dem dritten Lebensjahr oder durch diagnostische Kriterien, die nicht in allen oben genannten typischen Mustern erfüllt werden gegeben, auch wenn charakteristische Abweichungen auf anderen Gebieten vorliegen. Atypischer Autismus tritt sehr häufig bei schwer retardierten bzw. unter einer schweren rezeptiven Störung der Sprachentwicklung leidenden Patienten auf.
  • F84.2 Rett-Syndrom: Das Rett-Syndrom wurde bisher nur bei Mädchen beschrieben; nach einer scheinbar normaler frühen Entwicklung erfolgt der Krankheitsbeginn zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Dieser äußert sich durch einen teilweise oder vollständigen Verlust der Sprache, dem Verlust der lokomotorischen Fähigkeiten, der Gebrauchsfähigkeiten der Hände sowie gemeinsam mit einer Verlangsamung des Kopfwachstums. Charakteristische Muster sind der Verlust zielgerichteter Handbewegungen, Stereotypien in Form von Drehbewegungen der Hände und Hyperventilation. Die Sozial- und Spielentwicklung sind gehemmt, jedoch bleibt das soziale Interesse erhalten. Es resultiert fast immer eine schwere Intelligenz-minderung.
  • F84.5 Asperger-Syndrom: Charakteristisch ist eine auffallende frühe sprachliche und eine späte motorische Entwicklung. Die frühsprachliche und intellektuelle Entwicklung verläuft dabei zunächst unauffällig. Das Asperger-Syndrom wird daher erst im Kleinkindalter deutlich. Die Störung unterscheidet sich vom Autismus in erster Linie durch fehlende allgemeine Entwicklungsverzögerung bzw. den fehlenden Entwicklungsrückständen der Sprache und der kognitiven Entwicklung. Die Abweichungen tendieren stark dazu, bis in die Adoleszenz und das Erwachsenenalter zu persistieren, viele von ihnen besitzen eine durchschnittliche Intelligenz, in einzelnen Fällen besitzen sie auch hohe Teilleistungsstärken.

Statistik

  • Es gibt keine verlässlichen Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland. Derzeit nimmt man weltweit eine Prävalenz von 0,6% - 1% an, bei Jungen tritt dabei der Autismus viermal häufiger als bei Mädchen auf.
  • Vor allem in den USA wurde in den letzten zehn Jahren die Hypothese einer deutlichen Zunahme der Autismus-Rate in der Bevölkerung vertreten, die allerdings nicht unumstritten ist. Verantwortlich für die Zunahme könnten nicht nur Umwelt- und Lebensbedingungen sein, sondern auch neue, breiter gefasste Diagnosekriterien und ein gestiegenes Bewusstsein von Eltern und Ärzten. Um den Einfluss des Lebensstils und der Umwelt auf die Entstehung von Autismus zu untersuchen, werden seit einigen Jahren in den USA zum Teil große Studien durchgeführt (z.B. SEED, www.cdc.gov/ncbddd/autism/seed.html).

Ursachen und Risikofaktoren

  • Autismus tritt familiär gehäuft auf, so dass davon ausgegangen wird, dass genetische Faktoren oder Mechanismen zu den wichtigsten Ursachen für Autismus zählen dürften. So kommt z.B. im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen Autismus bei zusammen aufwachsenden eineiigen Zwillingen viel häufiger bei beiden Kindern vor. Wechselwirkungen zwischen Umweltfaktoren und Genen könnten ebenfalls eine Rolle spielen und eine veränderte Genregulation bewirken.
  • Das vulnerable Fenster, also die Zeit, in der Menschen besonders empfänglich für Schädigungen der Entwicklung und negative gesundheitliche Auswirkungen von Umweltbelastungen sind, ist die Schwangerschaft und die frühe Kindheit.
  • Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es unterschiedliche Theorien gibt, die sowohl genetische Mitursachen, biologische Faktoren als auch psychodynamischen Interpretationen ermöglichen.

Komorbidität (je nach Quelle) Repräsentative Studie: 109 Kinder mit Autismus-Spektrums-Störungen im Alter 5-17 Jahren (Leyfer, Folstein et al., 2006):

  • Spezifische Phobien 44,3%
  • Hyperaktivität ca. 31%
  • Zwangsstörungen 37%
  • Depressive Störungen 24%
  • Trennungsängste 11,9%
  • Oppositionelle Störungen 7%

Symptome F84.0 Frühkindlicher Autismus:

  • Auftreten bereits wenige Monate nach der Geburt, kein soziales Lächeln, keine Reaktion auf Zuwendungen der Mutter
  • Kinder starr und emotionslos, Spielstörungen
  • Veränderungsängste
  • verbale und Handlungsstereotypien, Verhaltensrituale
  • Wahrnehmungsschwäche
  • Motorische Koordinationsschwäche
  • Intellektueller Rückstand, in drei Viertel aller Fälle deutliche Intelligenzminderung
  • schwere Sprachentwicklungsstörung; zunächst motorische Entwicklung, dann (falls überhaupt) verspätete Entwicklung der Sprache, Phonographismus (Wiederholung von Vorgesprochenem), Neologismen
  • starke Abkapselung
  • defizientes Ich-Bewusstsein, pronominale Umkehr („ich“ wird zu „du“ – „du“ wird zu „ich“)

F84.2 Rett-Syndrom:

  • Verlust erworbener sprachlicher und manueller Fähigkeiten, Verlangsamung des Kopfwachstums, Ataxie
  • Stereotype windend-wringende Händewaschbewegungen;
  • exzessives Sabbern und Bespeicheln der Hände,
  • leeres „soziales lächeln“
  • Abbau und Rückbau bereits erreichter Entwicklungsstufen im 3. und 4. Lebensjahr; u.a. Sprachverlust, Verhaltensdesintegration und Wesensveränderungen und neurologische Symptome

F84.5 Asperger-Syndrom:

  • motorische Ungeschicklichkeit
  • repetitive stereotype Verhaltensmuster
  • Sprache mit Wortschöpfungen
  • Sonderinteressen und Spezialkenntnisse
  • Störungen der Kommunikation
  • geringe Fähigkeit zur Interaktion
  • wenig Mimik
  • häufige Selbstgespräche

Intervention allgemein Lebenslange Hilfen:

  • Es gibt keine Maßnahmen, die es möglich machen, die autistischen Kernprobleme zu beseitigen. Mit stark strukturierten und individualisierten Maßnahmen sowie verschiedenen Therapieformen kann eine Verbesserung der Symptomatik erreicht werden. Die Behandlungen können die Anpassung an die Anforderungen des Alltages, die Selbstständigkeit und die Interaktionsfähigkeit erheblich verbessern.

Günstige Lernbedingungen:

  • kleine Lernschritte, um das Kind nicht zu überfordern und Ängste auszulösen
  • die Lernsituation sollten nach Möglichkeit immer wieder gleich gestaltet werden und mit nur wenigen Veränderungen vorkommen
  • Stereotype Verhaltensweisen werden als sinnvolle Reaktionen angesehen. Wenn sie verringert werden sollen, müssen dem Kind andere Verhaltensweisen angeboten werden, die denselben Zweck erfüllen können.
  • Sonderliche Kommunikationsmöglichkeiten des Kindes werden aufgegriffen und im Laufe der Zeit werden Erweiterungen angeboten, um das Ausdrucksspektrum des Kindes anzuregen.
  • Hilfen werden nach dem Prinzip so „wenig wie möglich“ und „so viel wie nötig“ gegeben.

Sprachanbahnung:

  • Der Aufbau der Sprache kann nur in dem Ausmaß erfolgen, in dem das Kind Einsicht in die soziale Bedeutung des Sprechens erfährt. Die isolierte Sprachförderung, ohne die sozialen Kontexte zu berücksichtigen, wird zu kurzfristigeren Erfolgen führen.
  • Das aktive Sprechen sollte immer in den Kontexten Alltagstätigkeit und der dazugehörigen Aufforderung begonnen werden. (wie z.B. setzt dich!, Komm!, Essen!). Sobald das Kind ein Grundverständnis für alltagsrelevante Aufforderungen eingeübt hat, können komplexere Zusammenhänge, wieder an Hand von Alltagsbegriffen aufgebaut werden.

Verschiedene Therapieformen:

  • Musiktherapie oder Reittherapie sind gute Möglichkeiten die Kontaktaufnahme zum Kind herzustellen. Viele autistische Kinder reagieren positiv auf Musik, so dass sie gut als Verstärker eingesetzt werden kann. Die Beschäftigung mit Musikinstrumenten kann beispielsweise stereotype Verhaltensweisen für einige Zeit unterbrechen.
  • Aufgrund der hohen Belastung in alltäglichen Kontexten ist die Unterstützung von Familientherapeuten hilfreich, um richtige Lösungen finden zu können.

Unterstützung der Eltern:

  • In erster Linie brauchen Eltern eine professionelle Beratung und Aufklärung, die ihnen die grundlegende Problematik autistischer Störungen vermitteln soll, darüber hinaus aber das Kind als ein Individuum mit seinen spezifischen Problemstellungen versteht.
  • Eltern, die sich mit anderen Eltern autistischer Kinder vernetzen, können sich gegenseitig Unterstützen und weitere Impulse bieten.

Urtimur, Rieß

Literatur

Arolt, Reimer, Dilling (2011). Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer.

Trapmann, H.; Rotthaus, W. (2018). Auffälliges Verhalten im Kindesalter. Handbuch für Eltern und Erzieher. Band 1. Verlag modernes lernen.

Leyfer, Folstein et al. (2006): Comorbid Psychiatric Disorders in Children with Autism: Interview Development and Rates of Disorders.

Internetquellen:

https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2016/block-f80-f89.htm [10.01.2020]

https://www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/umweltmedizin/autismusautismus-spektrum-stoerungen# [15.01.2020]

https://www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/umweltmedizin/autismusautismus-spektrum-stoerungen#welche-risikofaktoren-sind-bekannt [16.01.2020]

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