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wsd:verhalten:themen:themenfeld5:d09

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Traumatisierung F43 und F62.0

Zitiervorschlag: Rieß, A. (2020). „Traumatisierung“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d09, CC BY-SA 4.0

ICD 10
bzw. 11

  • Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen: „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß. die dabei fast in jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde„ (Dilling, Mombour u. Schmidt, 2015, S.194)
  • F43.0 Akute Belastungsreaktion: Eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt.
  • F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung: Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
  • F62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderungen, nicht Folge einer Schädigung oder Krankheit des Gehirns: Hierbei handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten.

Statistik

  • Über die Hälfte fremdplatzierter Kinder und Jugendlichen zeigen Traumastörungen
  • 75% der fremduntergebrachten Mädchen und Jungen hatten in mind. einem und in über 50% in mehreren Bereichen traumatische Erlebnisse
  • 1-14% der Gesamtbevölkerung haben eine Traumafolgestörung

Ursachen und Risikofaktoren Traumatisierung entsteht

  • durch Situationen und Geschehnissen extremer oder langanhaltender meist außergewöhnlicher Belastung,
  • welche die Bewältigungsmöglichkeiten (Resilienzfaktoren) des Betroffenen übersteigt,
  • und dadurch zu anhaltenden tiefgreifenden Veränderungen des Selbst- und Welterlebens führen,
  • sowie dauerhafte Veränderungen von Denken, Fühlen und Handeln hervorrufen.

Unter den Themenfeldern werden sowohl Aspekte genannt die eine traumatische Situation darstellen können, als auch sich prätraumatisch bzw. posttraumatisch auf die Traumaschwere auswirken können. Menschen unterscheiden sich stark, wie sie traumatische Erlebnisse wahrnehmen, bewerten und verarbeiten.

Biografische Entwicklung

  • Vernachlässigung
  • Misshandlung
  • Psychiatrische Familiengeschichte
  • Wahrgenommene Lebensgefahr
  • Wahrgenommener Verlust jeglicher Autonomie
  • jegliche hochbelastende Bedrohung

Familiendynamik

  • Bsp. Vernachlässigung
  • ungute Beziehungen

Selbst

  • Negatives Selbstbild

Individuelle Vorrausetzung

  • Jüngeres Alter
  • Geschlecht (weiblich)
  • Geringe Bildung
  • Geringe Intelligenz
  • Coping-Verhalten

(Vor-) schulischer Kontext

  • Beschämung/ Kränkung

Peerbeziehung

  • Mobbing

Weiteres soziales Umfeld

  • ungute Beziehungen
  • fehlende soziale Unterstützung
  • ethnische Minderheit

Komorbidität
je nach Quelle

  • 90% der Jugendlichen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllen Kriterien mindestens einer weiteren Störung
  • Besonders häufig sind Depression, Angststörungen, Suchterkrankung, psychosomatische Beschwerden
  • Symptomatik und Dynamiken von Traumatisierung und Bindungsstörung überlappen sich stark

Symptome Häufige Symptome:

  • Intrusionen: sich aufdrängende Erinnerungen oder Wiedererleben des Traumas im Alltag
  • Reaktionen auf Auslöserreize (Trigger), als ob das Trauma aktuell wieder passieren würde
  • Aggressivität: Teilweise extreme Angriffe, z.T. mit Waffen auf Dritte (Im Glauben, selbst gefährdet zu sein und sich verteidigen zu müssen)
  • Wut auf Eltern oder andere Bezugspersonen, da sie die Betroffenen nicht beschützt haben
  • Schreikrämpfe, Tobsuchtsanfälle
  • Körperliches Erstarren
  • Häufiges Einnehmen der Embryohaltung
  • Emotionaler Rückzug/ emotionale Abstumpfung
  • Gefühl des Verlassenseins
  • Regression: Zurückfallen auf Verhalten- und Erlebensweise von Jüngeren (Daumenlutschen, Kinderspiele, Einnässen, etc.)
  • Entwicklungsstopp mit einzelnen Verhaltens-, Erlebens- oder Denkweisen, die sich nicht altersgemäß weiterentwickeln
  • Pendeln zwischen Regression, tatsächlicher Entwicklung und Übererwachsen sein wollen
  • Nachlassen von Neugier- und Explorationsverhalten
  • Verlust bisheriger Interessen
  • Angst vor Fremdem und Ungewohntem
  • Sozialer Rückzug
  • Misstrauen gegenüber Dritten
  • Angst vor Dunkelheit
  • Autoaggression und selbstverletzendes Verhalten
  • Vermeidung von Umständen, die an das Trauma erinnern könnten
  • Übererregung
  • Erleben der Welt als gefährlich, andauerndes Gefühl von Angst und Gefahr
  • Erhöhte Schreckhaftigkeit
  • Vegetative Störung
  • Gestörtes Körperselbstbild
  • Hyperaktivität
  • Rasche Erschöpfung
  • Reduzierter Appetit
  • Gefühl, mit allem nichts mehr zu tun zu haben
  • Gefühl, das alles unwirklich ist
  • Stimmungsschwankungen
  • Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
  • Schuldgefühle, vor allem wenn andere schwer geschädigt wurden oder gestorben sind
  • Allgemeine gedankliche Desorganisation mit Verwirrtheit Merkschwierigkeiten, eingeschränkte Logik und beliebig anmutende Verknüpfungen von Inhalten
  • Einzelne oder alle Aspekte des Traumas können nicht erinnert werden
  • Schwierigkeiten, Zusammenhänge zwischen Ereignissen herstellen zu können
  • Schwierigkeiten, traumaspezifische Aspekte sprachlich auszudrücken
  • Wahrnehmungsverzerrungen
  • Konzentrationsstörungen, Merk- und Lernschwierigkeiten
  • Infragestellung der eigenen Handlungsfähigkeit
  • Nachspielen der traumatisierenden Situation

Symptome bei sexuellen Traumata:

  • Stark sexualisierte Verhaltensweise
  • Extreme Suche oder vermeiden von Körperkontakt
  • Schwierigkeiten im Umgang mit Nähe und Distanz
  • Re-Inszenierungen des erlebten Übergriffs als Opfer oder mit vertauschten Rollen als Täter
  • Begehen von sexuellen Übergriffen
  • Grenzverletzungen gegenüber Dritten
  • Unterteilung der Menschen in Opfer und Täter (mit keiner Kategorie dazwischen oder unabhängig davon)
  • Übertragungen des erlebten Traumas auf ähnliche Bezugspersonen
  • Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung
  • Misstrauen gegenüber den eigenen Interpretation
  • Schwierigkeit, die eigenen Grenzen zu wahren
  • Deutlich Selbstwertprobleme

Intervention allgemein 1. Etablierung objektiver und gefühlter Sicherheit

  • Familie, Institutionen, Gruppen prüfen und gestalten ihre Lebensumgebung in Bezug auf folgenden Punkte:
  • Eine Lebensumgebung haben, an dem objektiv keine Gefahren drohen
  • Eine Lebensumgebung in der sich Menschen in Obhut befinden, beschützt sind und versorgt werden
  • Eine Lebensumgebung haben, in der Menschen die Sicherheit bei sich selbst finden, also wieder erleben, dass sie für sich handeln und sprechen können, sich schützen können und ihr Handeln die erwünschte Wirkung im Außen – wie im Innenleben erzielt
  • Eine Lebensumgebung haben, in der sich Menschen bei Bedarf bei spirituellen Mächten behütet und geborgen fühlen können
  • Eine Lebensumgebung haben, in der äußeren und inneren Bedrängungen mit Rückzug begegnet werden können.

2. Beziehungspersonen sind bereit zur eigenen Veränderung

  • Weniger aus persönlicher Betroffenheit reagieren
  • Eigene Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen hinterfragen
  • Eigene Themen in Konfliktsituationen hinterfragen
  • Selbstkontroll- und Distanzierungstechniken

3. Beziehungsaufbau und Beziehungsfähigkeit stärken

  • Langfristige, verlässliche Beziehungen
  • Krisen aushalten
  • Selbstwerterleben in Begegnung
  • Gelegenheiten Peerbeziehungen zu erleben
  • Insbesondere, dass Streit und Krisen keine Katastrophen sind

4. Gemeinsames Verstehen entwickeln

  • Trauma spezifische Informationen geben/ Krankheit erklären
  • Realitäten des Kindes/ Jugendlichen anerkennen
  • Ehrliches Interesse an der Wahrnehmung des Kindes/ Jugendlichen haben
  • Austausch über die Wahrnehmungen und Beobachtungen mit Kollegen und Eltern

5. Stabilisierung und Rückkehr der Eigenmacht

  • Lob und Anerkennung statt Kritik und Eingrenzung
  • Normalität herstellen und damit die Kinder und Jugendlichen nicht von Problemen fernhalten

6. Körperliche Stabilisation

  • Grundbedürfnisse sichern
  • Psychosomatische Beschwerden ernst nehmen
  • Körperliche Aktivitäten anbieten, die Kampf oder Flucht ähnlich sind
  • Entspannungstechniken
  • Spiele
  • Nähe und Berührung anbieten, ohne sie einzufordern

7. Stabilisierung und Kontrolle von Gefühlen

  • Strategien anbieten mit Gefühlen um zu gehen
  • Gefühle zeigen dürfen, ohne Angst vor Verletzung des Gruppenfriedens
  • Trigger aufspüren und vermeiden (eine Unterdrückung der Trigger durch Willensstärke ist nicht sinnvoll)
  • Umgang mit Tieren

8. Förderung eigenmächtigen Verhaltens und Umgang mit Kontrollverlust

  • Trauma bedingte Dynamiken kennen
  • Prävention zur Vermeidung des Kontrollverlustes (Sicherheit/ Vorhersehbarkeit/ Planbarkeit/ Möglichkeit der Bewegung)
  • Bewältigbare und sinnvolle Belastungen zumuten
  • Deeskalierend wirken bei Anzeichen von Stress
  • Anzeichen zum Kontrollverlust gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeiten
  • Unterbrecher für einen anstehenden Kontrollverlust erarbeiten (alles was die Personen aus der „Spur“ bringt z.B. mit falschem Namen angesprochen werden)

9. Lebensfreude

  • Alles woran die Jugendlichen Freude haben wirkt antitraumatisch

Psychotherapien

  • Kognitive Verhaltenstherapie

Literatur

Baierl, M. (2017). Herausforderung Alltag – Praxishandbuch für pädagogische Arbeit mit psychisch gestörte Jugendlichen. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

Baierl, M.; Frey, K. (2014). Praxishandbuch Traumapädagogik. Lebensfreude, Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Jugendliche; Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht.

Beerbom, C.; Netzwerk Schule und Krankheit; Bundesverband Aphasie e. V. (2010), Handreichung Schülerinnen und Schüler mit chronischen Erkrankungen. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM).

Kizilhan, J. I. (Hrsg.) (2016). Handbuch psychischer Erkrankungen für soziale Berufe. Lehrbuch für Studium und Praxis. VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung.

Kizilhan, J. I. (Hrsg.) (2019). Psychische Störungen; Lehrbuch für soziale Arbeit. Papst sience publisher 3. Auflage.

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