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Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB - Selbstständiges Leben

Zitiervorschlag: Gromer, B., Buck, V., Geurds, P., Schulte, T., Stähle, A. (2024). Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB - Selbstständiges Leben. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:sonderpaedagogisches_handeln_ileb_selbststaendiges_leben|, CC BY-SA 4.0

Im nachfolgenden Modell wird sonderpädagogisches Handeln als spiralförmiger und dynamischer Prozess im Sinne von ILEB verstanden. Die den ILEB-Bausteinen zugeordneten Qualitätsmerkmale werden in den Handlungsschritten erläutert. Das Modell basiert für den Bereich „Selbstständiges Leben“ auf den folgenden Modellen, Konzepten und Theorien:

Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung (ILEB) nach Burghardt/ Brandstetter (2008)
Bedingungsanalytische Diagnostik nach Trost (2008)
• Persönliche Zukunftsplanung nach O’Brien/O’Brien (1999)/ Doose (2020) (Link zu Theorietextseite)
Das Partizipationsmodell nach Beukelman/ Mirenda (1998)
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2011)

Übergeordnete Leit- und Zielperspektiven für das sonderpädagogische Handeln im Rahmen von „ILEB - Selbstständiges Leben“ bilden die Begriffe „Selbstbestimmung“, „Partizipation“ und „Lebensqualität“.
Dies betrifft alle Bausteine der ILEB-Schleife. Sowohl in der Anlage und Ausgestaltung des Prozesses (begonnen bei der Entwicklung einer Zielperspektive) bis zur Überprüfung der Wirksamkeit von Bildungsangeboten und Maßnahmen, müssen die Wünsche, Sichtweisen und Kompetenzen der Person, um die es geht, zum Tragen kommen.
Die Erweiterung selbstständiger Handlungsmöglichkeiten (z.B. sich alleine anziehen können) kann ein wichtiger persönlicher Entwicklungsschritt sein. Ein erhöhter Grad an Selbstständigkeit ist allerdings weder immer Voraussetzung noch Garantie für ein erhöhtes Maß an Selbstbestimmung, an Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten sowie einer gesteigerten Lebensqualität.

Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB Selbstständiges Leben

ileb_sl_grafik.jpegZitiervorschlag: Grafik „Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB Selbstständiges Leben“ von Buck, V., Gromer, B., Guerds, P., Schulte, T., Stähle, A. (2024) in Anlehnung an Brandstetter, R., Stecher, M. & Rauner R. (2016). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:sonderpaedagogisches_handeln_ileb_selbststaendiges_leben, CC BY-SA 4.0


Spezifizierung der den ILEB-Bausteinen zugeordneten Handlungsschritte

Formulierung einer Zielperspektive

Die Erweiterung selbstständiger und selbstbestimmter Handlungsmöglichkeiten nimmt gegenwärtige sowie zukünftige Lebenssituationen in den Blick. In vielen Fällen ist zunächst nicht die Frage nach den Ursachen für aktuelle Schwierigkeiten zielführender Ausgangspunkt des Prozesses, sondern der Entwurf einer angestrebten Zielperspektive.
Die Wünsche und Vorstellungen der Person im Zusammenspiel mit den Erfordernissen der aktuellen und zukünftigen Lebenssituation bilden hierbei Grundlage für die gemeinsame Entwicklung einer Zielperspektive. Je nach Lebenssituation können in ihrer Qualität und Dimension ggf. sehr unterschiedliche Zielperspektiven entwickelt werden (z.B. Selbstständige Bewegungsübergänge gestalten, selbstständiges An- und Ausziehen bis hin zu Themen, die die Freizeitgestaltung, die Mobilität mit Verkehrsmitteln oder Aspekte des Wohnens und Arbeitens in den Blick nehmen).


Analyse der Zielperspektive

Analog zu einer Fragestellungsanalyse (Trost 2008), meint die Analyse der entworfenen Zielperspektive eine zunächst rein theoretische Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Sachverhalt - zunächst noch unabhängig vom konkreten Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Ziel der Analyse ist es ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Aspekte das Erreichen der Zielperspektive beeinflussen und damit auch diagnostisch relevant sind.
Die Kategorien der ICF-CY bieten die Grundstruktur, um relevante Aspekte zu strukturieren und zu ordnen.


Erhebung diagnostischer Daten

Zur Erhebung diagnostischer Daten werden in Abhängigkeit von der Zielperspektive sowie den Zugangsfertigkeiten des einzelnen Kindes, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen diagnostische Methoden ausgewählt (z. B. Beobachtung, standardisierte bzw. informelle Verfahren, Gespräche, …).
Die Erhebung diagnostischer Daten erfolgt in unterschiedlichen Alltagssituationen und unter Einbezug unterschiedlicher Perspektiven (Kind, Jugendliche:r oder junge:r Erwachsene:r, Erziehungsberechtigte, Lehr- und Fachkräfte und ggf. weitere am Bildungsprozess beteiligte Personen).
Die Darstellung und Ordnung der erhobenen diagnostischen Daten erfolgt im Spiegel der ICF-CY.


Erklärung relevanter Zusammenhänge und Analyse der Potentiale

a) Erklärung relevanter Zusammenhänge
Im Anschluss an die Erhebung der diagnostischen Daten erfolgt die Erklärung relevanter Zusammenhänge (vgl. Trost 2008; 2017). Dieser Prozess ist das Bindeglied zwischen Diagnostik und Didaktik. Die formulierten Hypothesen sind präzisierte Vermutungen, die beschreiben, woran es liegen könnte, dass die angestrebte Zielperspektive aktuell noch nicht erreicht ist oder die Gefahr besteht, dass diese nicht erreicht werden kann. Da die Hypothesen einzelne diagnostische Kategorien theoriegeleitet miteinander in Beziehung setzen und Wirkzusammenhänge aufzeigen, werden sie auch als Zusammenhangshypothesen bezeichnet.

  • Mit welchen Körperfunktionen und ggf. Körperstrukturen könnten die diagnostischen Daten im Bereich Aktivität und Teilhabe in Zusammenhang stehen?
  • Mit welchen Diagnosen nach ICD-10/DSM 5 könnten die diagnostischen Daten im Bereich Aktivität und Teilhabe in Zusammenhang stehen?
  • Mit welchen Kontextfaktoren (Personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren) könnten die diagnostischen Daten im Bereich Aktivität und Teilhabe in Zusammenhang stehen?
  • Welche Zusammenhänge bestehen zwischen einzelnen Aktivitätsbereichen?

Die Hypothesenbildung verläuft theoriegeleitet, d.h. unter bestmöglicher Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bzgl. möglicher Zusammenhänge der erhobenen diagnostischen Daten.
In der Darstellung relevanter Zusammenhänge kann es hilfreich sein, eine Unterscheidung zwischen Gelegenheitsbarrieren und Zugangsbarrieren vorzunehmen (s.Partizipationsmodell).

b) Analyse der Potentiale
Die Analyse der Potentiale (vgl. Beukelman & Mirenda, 2005) ist ein weiterer Schritt hin zur Entwicklung von Bildungsangeboten und unterstützenden Maßnahmen zur Erreichung der Zielperspektive. Mit ihr wird erörtert, wo noch nicht genutzte oder zu entwickelnde Ressourcen liegen. Grundlage hierfür sind die erhobenen diagnostischen Daten und die Erkenntnisse aus der Hypothesenbildung.

Potential der natürlichen Fähigkeiten der PersonWelche bereits vorhanden Kompetenzen der Person wurden bislang ggf. zu wenig berücksichtigt?
Welche Kompetenzen kann/ möchte die Person perspektivisch (kurz-/mittel-/langfristig) entwickeln?
Potential der Umgebungsanpassung Welche Umweltfaktoren können perspektivisch (kurz-/mittel-/langfristig) entwickelt, verändert bzw. aktiviert werden?

Ableitung von konkreten Zielen, individuellen Bildungsangeboten und unterstützenden Maßnahmen

Im Anschluss an den Verstehensprozess im Rahmen der Hypothesenbildung und der Analyse der Potentiale werden in der kooperativen Bildungsplanung konkrete Ziele, Bildungsangebote und unterstützende Maßnahmen abgeleitet.
Um auch hier dem Prinzip der Selbstbestimmung Rechnung zu tragen, wird zur Bildungsplanung auf Grundlage der festgestellten Potentiale, der Wünsche und Vorstellungen der Person ein Unterstützerkreis (Link Theorietextseite „Persönliche Zukunftsplanung“) gebildet. In der Bildungsplanung werden Hypothesen mit Zielen, Bildungsangeboten und Maßnahmen miteinander verknüpft, Verantwortlichkeiten geklärt und eine zeitliche Perspektive entwickelt. Die Bildungsplanung nimmt dabei nicht nur die Erweiterung der Kompetenzen im Hinblick auf die Selbstständigkeit der Person in den Blick, sondern verknüpft diese mit erweiterten Möglichkeiten der Partizipation und Selbstbestimmung.
Je nach Zielperspektive werden bei der Planung der Bildungsangebote und unterstützenden Maßnahmen im Laufe des Prozesses zwei unterschiedliche Phasen in den Blick genommen werden:

Die 1.Phase bezieht sich zunächst stark auf die gegenwärtige Situation und auf die möglichst zeitnahe Erweiterung von Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten.

  • Wie kann das Ziel möglichst schnell im Rahmen der momentanen Kompetenzen der Person erreicht werden?“ „Welche Umweltfaktoren müssen verändert werden?“ „Welche unterstützenden Maßnahmen (personale und/oder materielle Hilfen) werden benötigt?“

Die 2.Phase bezieht sich auf eine nachhaltige Etablierung. Eine Erweiterung der Selbstständigkeit des Kindes, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen hat das Ziel, die zu Beginn des Prozesses ggf. noch notwendigen „fremden“ Unterstützungsangebote im Laufe des Prozesses abzubauen. Zeitgleich muss gesichert werden, dass dauerhaft notwendige Unterstützungsangebote bestehen und in der Verantwortung des Umfeldes bleiben.

  • „Wie wird der Prozess zu mehr Selbstständigkeit didaktisiert?“ „Welche Bildungsangebote unterstützen den Kompetenzerwerb?“
  • „Welche unterstützenden (personelle oder materielle) Maßnahmen können sukzessive abgebaut werden?“ „Welche müssen mittel- bis langfristig erhalten bleiben?“

Umsetzung der individuellen Bildungsangebote

Im Anschluss an die kooperative Bildungsplanung erfolgt die gemeinsam verantwortete Umsetzung von Zielen, Bildungsangeboten und unterstützenden Maßnahmen. Hierbei werden sowohl unterrichtliche als auch außerunterrichtliche Bildungsangebote in den Blick genommen (ggf. auch therapeutische Angebote). Ebenso erfolgt nach Möglichkeit die Reduktion vorhandener Barrieren in den Kontexten und die Aktivierung noch nicht genutzter Ressourcen.


Bildungsangebote und unterstützende Maßnahmen überprüfen

Mit Blick auf die weitere Entwicklung des jungen Menschen ist es bedeutsam, dass die am Prozess Beteiligten dauerhaft und regelmäßig miteinander im Gespräch bleiben. Dabei gilt es unter anderem zu prüfen, ob die vereinbarten Ziele und die daraus abgeleiteten individuellen Bildungsangebote und unterstützenden Maßnahmen wirksam und noch passend sind.
Entscheidend bei der Erhebung und Bewertung der Wirksamkeit ist dabei nicht alleine die Frage, ob und wie sich die Selbstständigkeit der Person verändert hat, sondern ob auch erweiterte Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Partizipation entstanden sind. Ein zu starker bzw. ausschließlicher Fokus auf den Bereich der Aktivitäten greift damit zu kurz.
Zur Erfassung und Bewertung der Wirksamkeit der Bildungsangebote und Maßnahmen kann das Konzept der Lebensqualität herangezogen werden.


Dokumentation

Die Dokumentation erfolgt im Spiegel des bio-psycho-sozialen Modells der ICF-CY. Sie bildet die Schritte des Sonderpädagogischen Handlungsmodells ab. Die Dokumentation erfolgt prozessbegleitend, das heißt im Falle der prozessorientierten Diagnostik fortlaufend entlang der Bildungsbiografie. Adressat:innenbezogene Formen der Dokumentation berücksichtigen insbesondere die Verständlichkeit für die betroffene Person, die Erziehungsberechtigten und weitere am Bildungsprozess Beteiligten. Dokumentationsformate, die an die Schulverwaltung adressiert sind, nehmen in erster Linie die fachlichen Qualitätsstandards in den Blick. Im Falle von Feststellungsverfahren gilt es zusätzlich die Kriterien zu prüfen, die für einen Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot in einem bestimmten Förderschwerpunkt sprechen.


Link zu den Fallbeispielen


Literatur

Beukelman, D. & Mirenda, P. (2005). Augmentative and Alternative Communication. Managing Severe Communication Disorders in Children and Adults. Baltimore: Brooks

Brandstetter, R., Stecher, M. & Rauner R. (2016). Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB. Abgerufen von :https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:sonderpaedagogisches_handeln_ileb

Burghardt, M. & Brandstetter, R. (2008). Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung: Aufgabe und Instrument der Arbeit an Sonderschulen. In vds, Landesverband Baden-Württemberg (Hrsg.), Pädagogische Impulse, 3/2008.

Doose, S. (2020). „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung weiter gedacht. Neue Perspektiven und Methoden einer personenzentrierten Planung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Neu-Ulm: AG SPAK.

O'Brien, J. & O'Brien, C. (1999). A little book about Person Centered Planning. Toronto: Inclusion Press.

Trost, R. (2008). Bedingungsanalytische Diagnostik: Ein Vorschlag zur Überwindung alter Gräben. In Hiller, G. G., Trost, R. & Weiß, H. (Hrsg.). Der diagnostische Blick. Vaas: C&C-Verlag.

Trost, R. (2017). „Man sieht nur, was man weiß.“ Diagnostik in inklusiven und sonderpädagogischen Arbeitsfeldern. In: Lindmeier, C. & Weiß, H. (Hrsg.). Pädagogische Professionalität im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und inklusiver Bildung. Sonderpädagogische Förderung heute, 1. Beiheft. Weinheim: Beltz Juventa

Zentel, P. (2022). Lebensqualität und geistige Behinderung. Theorien, Diagnostik, Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer.


Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

wsd/grundlagen/sonderpaedagogisches_handeln_ileb_selbststaendiges_leben.txt · Zuletzt geändert: 2024/11/19 14:21 von Romina Rauner