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wsd:verhalten:theorien_verhalten:uebertragung

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Übertragung, Gegenübertragung, szenisches Verstehen

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S., Brandstetter, R. (2022). „Übertragung, Gegenübertragung, szenisches Verstehen“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:abwehrmechanismen, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungIn dieser Theorie geht es darum, wie sich Professionelle im psychosozialen Bereich über Wahrnehmungsvorgänge, Alltagsbegegnungen, Szenen, Handlungen, Gespräche usw. relevante diagnostische Daten dazu erarbeiten können, wie sich Affekte und Informationen über Kommunikation unbemerkt von Mensch zu Mensch übertragen. Dazu sollen zwei ähnliche bzw. sich überschneidende Konzepte kurz vorgestellt werden: Übertragung und Gegenübertragung sowie szenisches Verstehen.
Übertragung und Gegenübertragung ist das weitreichendste, älteste und differenzierteste Konzept, deswegen wird es hier am Ausführlichsten vorgestellt. Es stammt aus der tiefenpsychologischen Behandlung und hat sich mittlerweile auch in andere Therapieschulen und nicht klinische Bereiche hinein entwickelt. Ganz einfach ausgedrückt meint das Konzept der Übertragung das, was sich kommunikativ-affektiv-unbewusst von einer Person auf eine andere überträgt (z.B. vom Patienten auf die Therapeutin, von der Schülerin auf den Lehrer). Ein Beispiel dafür wäre, wenn eine Lehrperson mit einer Schülerin:einem Schüler gearbeitet hat und danach ein ungewohnt hohes Maß an Hoffnungslosigkeit verspürt. Die Gegenübertragung ist dann (wieder vereinfacht ausgedrückt) die Art und Weise, was die Lehrperson davon (unbewusst) in die Interaktion mit dem Kind „zurückträgt“, z.B. dass sie das Gefühl hat, das Kind retten oder bestrafen usw. zu müssen.
Relevant sind in diesen diagnostischen Kontexten dabei vor allem konflikthafte, aggressive und aversive Übertragungen. Übertragung und Gegenübertragung bei psychosozial stark belasteten Kindern hat die Tendenz zu teilweise heftigen und unmittelbaren Reaktionen von allen Seiten. Die Idee ist, je mehr von diesem Übertragungsprozess bewusstwerden kann, desto adaptiver im Sinne einer Entwicklungsperspektive kann die Lehrperson darauf reagieren. Es kann also die Möglichkeit entstehen, irrational anmutende Ereignisse besser zu verstehen, um sich in der Folge für die Reaktion einen produktiven Frei- und Reflexionsraum zu verschaffen.
Die Idee des szenischen Verstehens arbeitet im Wesentlichen mit den Ideen von Übertragung und Gegenübertragung. Ein Schwerpunkt des szenischen Verstehens ist es, sich mit spezifischen Szenen (auch „Situation“ genannt) zu beschäftigen, die nicht ohne Weiteres zu verstehen sind.
Rauh (2010) nennt drei Grundannahmen des szenischen Verstehens:
1) Das Vorhandensein einer unbewussten Dimension
2) Das unbewusste Einbringen/Inszenieren von unbewältigten Themen, die oft aus prägenden früheren Beziehungen stammen
3) Das Verstehen solcher unbewusst konstruierter (Re)Inszenierungen.
Teilweise wird dieses Phänomen ohne tiefenpsychologischen Unterbau auch als Resonanzphänomen bezeichnet.
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?Der Einbezug von Übertragungen und Gegenübertragungen im Rahmen des verstehenden Ansatzes ist insbesondere in Bezug auf alles vordergründig Unverständliche unerlässlich.
Zentral aber auch kompliziert wird allerdings die Frage, wie die beschriebenen unbewussten Prozesse, Szenen und Situationen zugänglich werden können. Die zunächst einfache Antwort darauf heißt Reflexion. Allerdings setzt diese Form der Reflexion einige Punkte voraus, die unter „Grenzen“ und unter „Konkrete diagnostische Methoden“ im Zusammenhang mit der Theorie weiter behandelt werden.
GrenzenDa es sich hierbei um wichtige - da handlungsleitende - aber primär unbewusste Vorgänge handelt, ist es eine relevante Grenze, dass eine interpretative Reflexion solcher Prozesse immer subjektiv bleibt und deswegen in ihren Annahmen zwingend veränderbar sein muss. Unbewusst heißt immer auch kognitiv nicht unmittelbar zugänglich. Das Problem ist deshalb, dass der Versuch einer weitreichenden Dekodierung von unbewussten Motiven Qualitätsstandards voraussetzt. Zum einen meint dies eine Leitungsperson oder zumindest nicht-involvierte Personen, zum anderen sollte eine Leitungsperson aber eben auch theoretisches Wissen und Techniken über unbewusste Kommunikation besitzen und und dieses in (Selbst)Erfahrung bereits erkundet und erfahren haben. Zielführend ist eine solche Entschlüsselung nur dann, wenn es möglich wird, dass gerade die Reflexion der Gegenübertragung dazu beitragen kann, welche Affekte in welcher Form mit der Lehrer:innen-Schüler:innen-Interaktion zu tun haben (also vor allem vom Schüler eingebracht werden) oder welche wiederum aus der Biografie der Lehrperson mit hineinspielen. Manche spontane interaktionelle Reaktionsbildung auf ein Schülerverhalten durch eine Lehrperson kann sich also auf eigene (unbewusste) Erfahrungen beziehen und evtl. „draufseten“. Die „Themen“ der Lehrperson sind im diagnostischen Prozess zum möglicherweise besseren Verstehen deshalb unbedingt zu berücksichtigen.
Diagnostische Fragestellungen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Wie schätze ich den Schüler affektiv ein?
- Wie passen die Affekte zum gezeigten Verhalten?
- Welche Affekte löst das bei mir aus? Was könnte sich also übertragen?
- Wo knüpfen die ausgelösten Affekte bei mir an verletzliche Stellen an und setzen sich möglicherweise „oben drauf“?
- Wie kann ich mich dem /der Schüler:in gegenüber so verhalten, dass ich ihm/ihr im Sinne einer Musterbildung (s. Theorie) nicht in eine kommunikative Schleife gerate und ihm/ihr so die gleichen entwicklungshindernden Erfahrungen spiegele, die er/sie schon aus anderen Situationen kennt.
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
Generell lässt sich sagen, dass viele Formen der Reflexion nützlich sein können. Es kann und muss auch nicht immer das Ziel sein „unbewusste Geheimnisse“ ans Licht zu bringen, sondern kann sich in jedem Fall lohnen, komplexe Kommunikationswege nachzuzeichnen.
- Gespräche mit Kolleg:innen über Kinder und Jugendliche (Fokus auf Szenen und Situationen die „hängengeblieben“ sind.)
- (Kollegiale) Fallberatung
- Intervision (Teamintervision oder Gruppe von Lehrkräften verschiedener Schulen bzw. interdisziplinäre Teams)
- Supervision (Teamsupervision oder eine Supervisionsgruppe von Lehrkräften verschiedener Schulen bzw. interdisziplinäre Teams)
Impulse für die Gestaltung individueller BildungsangeboteAkute Interventionen und Längerfristige Interventionen
Ziel ist es, Erkenntnisse die aus der Reflexion der szenischen Übertragung und Gegenübertragung entstanden sind, in die direkte Kommunikation mit Schüler:innen individualisiert hineinzutragen. Es geht also darum, möglichst nicht Teil eines unproduktiven Kommunikationsmusters zu werden, sondern in einer Balance aus Nähe und Distanz kommunikativ und erfahrungsbasiert wichtige pädagogische Impulse für den jungen Menschen setzen zu können.
Formelle Trainings
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie, d.h. vor allem Teilnahme an Reflexionsprozessen.

Literatur

Grüneisen, V. (2022). Vom sicheren Wissen zum Ungewissen. Forum Psychoanal 38, 3–16.(2022). https://doi.org/10.1007/s00451-022-00458-9

Rauh, B. (2010). Szenisches Verstehen. In B. Ahrbeck & M. Willmann (Hrsg.), Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch (S. 173-181). Stuttgart: Kohlhammer.

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

wsd/verhalten/theorien_verhalten/uebertragung.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/27 21:03 von Romina Rauner