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Schmerzbasiertes Verhalten

Zitiervorschlag: Kopp, S. und Gingelmaier, S. (2020). „Schmerzbasiertes Verhalten“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:schmerzbasiertes_verhalten, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungSchmerz ist ein übergreifendes bio-psycho-soziales Thema, das Menschen jeden Alters, aus unterschiedlichsten Lebenslagen und zu verschiedenen Zeitpunkten beschäftigen kann.
Schmerzen sind von existentieller Bedeutung für den Menschen, da sie alle anderen psychischen und physischen Empfindungen dominieren und eine akute Lebensbedrohung sein können.
Die Bewältigung von akuten und chronischen Schmerzen wird zu einer andauernden bio-psycho-sozialen Aufgabe und Belastung. Entscheidend ist, dass chronische und zirkuläre Belastungserfahrungen jeglicher Art bei Kindern und Jugendlichen zu tiefgreifenden psychischen Verletzungen führen können (vgl. Opp, 2017. S. 22). So können herausfordernde Verhaltensweisen als Weg verstanden werden, mit physischen und psychosozialen Schmerzen umzugehen und diese mitzuteilen.
Weitere Konkretisierungen zu den Ausdrucksformen von Schmerzen finden sich hier (Schmerzbasiertes Verhalten)
Fast jeder Mensch empfindet Schmerzen – abgesehen von Formen der Analgesie. In engem Zusammenhang mit Ursache, Art und Stärke des Schmerzes reagiert der Mensch individuell darauf. Unterschieden wird zwischen physischem, psychischen und sozialen Schmerzen.
Psychischer und sozialer Schmerz entsteht z.B. durch
- massive Erfahrungen der Zurückweisung
- massive Erfahrung der Abwertung
- Erfahrungen von Verlust der Zugehörigkeit
- massive Vernachlässigung und Mobbing
- körperlichen und sexuellen Missbrauch
- Eine Verstärkung des psychosozialen Schmerzes kann durch fehlende Wahrnehmung und Begleitung der Umwelt erfolgen
- Mögliche Folgen: langandauernde und tiefsitzende Schmerzerfahrungen, die auch zu physischen Schmerzen und chronischen Erkrankungen führen können.
Physische Schmerzen entstehen z.B. durch
- körperlichen und sexuellen Missbrauch
- psychischen und sozialen Schmerz
- veränderten Körperstrukturen und –funktionen (u.a. Syndrom)
- chronischen Erkrankungen
- langandauernde physische Schmerzen verursachen psychische Belastungen
- physische Schmerzen können auch aktiv herbeigeführt sein, um psychosozialen Schmerz zu überlagern oder mittzuteilen (selbstverletzend).
- Körperliche Gewalt, Verletzungen (Blutergüsse, Frakturen)
- Verweigerung, dass körperlichen Bedürfnissen nachgegangen werden darf (Toilette wird abgeschlossen, Ernährung wird nicht ermöglicht)
- Verletzungen aufgrund sexuellen Missbrauchs
- Diabetes
- Morbus crohn
- Spastiken und Schmerzen des Stütz- und Bewegungsapparates
- Schmerzen durch Verdauungsstörungen aufgrund von veränderter Körperstrukturen und -funktionen (Reflux, Magenschmerzen, Schmerzen durch Ausräumen oder Katheder)
- falsche Positionierung
- falsche Hilfsmittelversorgung (Rollstuhl, orthopädische Maßnahmen)
- Schmerzen durch Wundliegen
- unerkannte oder syndrombedingte Zahn- oder Kopfschmerzen (Shuntlage nicht korrekt)
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen und wo sind ihre Grenzen?1. Schmerzen können das Resultat von verletzenden, überfordernden, beschämenden, gewalttätigen usw. Erlebnissen sein und sich in Verhaltensauffälligkeiten ausdrücken. (vgl. Themenfeld Biografische Entwicklung und Themenfeld Familiendynamik)
2. Verhaltensauffälligkeiten können ein Resultat von Schmerzen sein, wenn die Gesundheit grundlegend eingeschränkt ist.
3. Verhaltensauffälligkeiten können ein Hinweis darauf sein, dass psychosoziale und physische Schmerzen mithilfe von Mechanismen wie Verdrängung oder Projektion bewältigt werden.
4. Das Erkennen von Schmerzen kann bei jungen Menschen aufgrund ihrer individuellen Voraussetzung grundlegend erschwert sein.
- 5. Das Kommunizieren von Schmerzen kann aufgrund der individuellen Voraussetzung beeinträchtigt sein, wenn z.B. die Symbolisierungsfähigkeit affektiv nicht möglich, der Wortschatz eingeschränkt oder verbale Kommunikation erschwert ist und Mittel der unterstützen Kommunikation fehlen.
Grenzen: Schmerzen sind individuell und selten direkt sichtbar, deswegen sollte vorsichtig, offen und in Abstimmung vorgegangen werden. Es bleibt aber eine (lohnende) Interpretation, Handeln und Empfinden in Zusammenhang mit darunterliegenden Schmerzen zu bringen. Jegliche Art von Schmerzen müssen interdisziplinär abgeklärt werden.
Diagnostische Fragestellungen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Welche Schmerzen beschreibt der junge Mensch? Welche Intensität gibt der junge Mensch an?
- Wie häufig treten die gleichen oder andere Schmerzen auf? Wann zeigt der junge Mensch diese Schmerzen (sind sie z.B. situationsangemessen?). Vgl. Fragen-Set „Verhalten beschreiben“ & Themenfeld „Gesundheit“
- Wie kommuniziert der junge Mensch? Vgl. Fragen-Set Themenfeld Individuelle Voraussetzungen“
- Welche Ursachen für die somatischen und/oder psychosomatischen Schmerzen sind bekannt?
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
- Zunächst gilt es zu prüfen, ob die körperlichen Schmerzen medizinisch abgeklärt werden müssen. Weiterführend: ggf. auch psychologisch/psychiatrische Unterstützung hinzuzuziehen.
- Für die (sonder-)pädagogische Diagnostik werden vor allem informelle Beobachtungen von Schmerzen empfohlen (z.B. Schmerzprotokoll, Schmerzfragebögen wie EDAAP vgl. Belot 2009).
- Es bedarf neben Klärung der Fakten auch eines hermeneutischen Zugangs zu den Schmerzen.
- Darüber hinaus sollte geklärt werden, wie das (sonder-)pädagogische Setting generell mit auftretenden Schmerzen umgeht? Vgl. Fragen-Set Themenfeld „(Vor-)Schulischer Kontext“
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote- Ggf. medizinische Abklärung einleiten
- Konzept entwickeln für interdisziplinäre professionelle Zusammenarbeit
- Konzept entwickeln zur Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten
- Achtsam und empathisch mit dem schmerzbetroffenen Kind oder Jugendlichen umgehen
- einen sicheren Rahmen schaffen und unterstützend-korrigierende Beziehungsangebote eröffnen → Zutrauen in die Umwelt und sich selbst den Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.
- Ein anregendes und sicheres Setting schaffen, für das Explorieren und für eine nachhaltige psychosoziale Entwicklung (vgl. Opp 2017)
- Aufbau einer tragfähigen Kommunikation durch zum Bespiel Wortschatzarbeit oder unterstützte Kommunikation ist zentral.
- Ebenso muss der Erwerb einer Symbolisierungsfähigkeit von Affekten angebahnt werden, so dass eine adäquate Affektregulation erfolgen kann.
Weitere Konkretisierungen:
- Arztbesuche (bei bspw. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Zahnschmerzen)
- Raum des sicheren Ortes gestalten (vgl. Opp 2017)
- Symbolisierungsfähigkeit unterstützen
- Spielerische und gestalterische Angebote, um neue interaktionelle Erfahrungen zu machen und sich auszudrücken
- Kommunikation ermöglichen: Wortschatzarbeit, Unterstütze Kommunikation
- Medikation überprüfen lassen (Nebenwirkungen)
- Positionierung ändern z.B. bei Nahrungsaufnahme
- Entwicklung eines Körperschemas fördern
- prüfen der medizinischen Versorgung (z.B. sitzt der Shunt richtig, ist die Sonde noch gut platziert, gibt es Schluckschmerzen oder ähnliches aufgrund von Entzündungen) und entsprechende empfohlene Maßnahmen durchführen
- sind die Schmerzen durch Verdauungsprobleme verursacht, dann Nahrungsumstellung vornehmen, Bewegung und Unterstützung bei der Abfuhr durchführen, Medikamente erfragen (bei Reflux: magensäurebindendes Medikament)

Literatur

Belot, M. (2009). Bogen zur Evaluation der Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung – die EDAAP-Skala. In: Maier-Michalitsch, Nicola J. (Hg): Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, verlag selbstbestimmtes leben, Sonderdruck aus dem Buch.

Dederich, M. (2009). Schmerz – eine philosophische Erkundung. In: Maier-Michalitsch, Nicola J. (Hg.): Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, verlag selbstbestimmtes leben, Seite 12 – 29.

Huber, B. (2009). Ein Recht auf Nicht-Leiden? Seelischer und körperlicher Schmerz bei Menschen mit schwersten (körperlichen und geistigen) Behinderungen. In: Maier-Michalitsch, Nicola J. (Hg.): Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, verlag selbstbestimmtes leben, Seite 39 – 57.

Nüsslein, F., Schlichting, H. (2015). Schmerzen bei Menschen mit Komplexer Behinderung – Notwendigkeit einer Konzeptualisierung in der Aus- und Fortbildung. In: Teilhabe 4/2015, Jg. 54, S. 163-169.

Nüsslein, F. (2009). Leiblichkeit und Schmerz. In: Maier-Michalitsch, Nicola J. (Hg): Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, verlag selbstbestimmtes leben, Seite 58 – 86.

Opp, G. (2017). Schmerzbasiertes Verhalten – eine paradoxe pädagogische Herausforderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 68., Seite 22 – 30.

Plener, P.L. et al. (2017). Auswirkungen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung im Kindesalter auf die psychische und physiche Gesundheit im Erwachsenenalter. In: Nervenheilkunde 3/2017, Jg. 36, S. 161-167.

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

wsd/verhalten/theorien_verhalten/schmerzbasiertes_verhalten.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/27 20:44 von Romina Rauner