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Mentalisieren in der Pädagogik

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2020). „Mentalisieren in der Pädagogik“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:mentalisierung, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungNach Allen et al. (2011) beschreibt Mentalisieren die Fähigkeit „sich selbst von außen und die andere oder den anderen von innen zu sehen“ (S. 13). Das bedeutet, dass man andere Personen und sich selbst als intentionale Lebewesen mit mentalen Zuständen wahrnehmen (Schwarzer, 2019) und deren unterschiedlichen Perspektiven verstehen und koordinieren kann. Hierbei ist besonders die alltagsimamente Zuschreibung mentaler Zustände (Gefühle, Wünsche, Phantasien, Gedanken) bei sich und anderen als Grundlage von Verhalten hervorzuheben. Diese Fähigkeit der Zuschreibung ist nicht angeboren. Sie entwickelt sich vielmehr ab der frühen Kindheit vor allem durch die Affektspiegelung von Bezugspersonen im Rahmen von Bindungsbeziehungen. Mentalisieren stellt also zunächst die Fähigkeit von Bindungspersonen dar, ein intuitives und situatives Konzept zu entwickeln, was mit dem kleinen Kind los ist, das sich noch nicht sprachlich äußern kann. Passen die Reaktionen der Bezugsperson dauerhaft in etwa zu den mentalen Zuständen des Kindes, entwickelt sich daran sowohl das Selbst wie auch die Fähigkeit, das Selbst wirksam zu regulieren. Menschen lernen so, das eigene und fremde Verhalten durch die Interpretation von mentalen Zuständen zu verstehen (Affektregulation). Damit spielen Mentalisierungsprozesse in alle Beziehungs- und Lernprozesse hinein (Gingelmaier & Schwarzer, 2019). Weisen diese Abstimmungsprozesse aber dauerhaft Beeinträchtigungen z.B. durch Stress, Gewalt, Desinteresse, Abwesenheit, usw. auf, sind diese mentalisierenden Spiegelungsprozesse anfällig dafür, dass Kinder sich fehlinterpretiert und damit nicht gemeint fühlen. Unter (Beziehungs-)Stress ist Mentalisieren deswegen deutlich schwieriger bzw. kann sogar zum Erliegen kommen. Dies ist ein Grund, warum Mentalisieren in professionellen Settings immer dann am wichtigsten ist, wenn es am schwierigsten aufrecht zu erhalten ist (Gingelmaier & Kirsch, 2020). Obwohl hier ab der frühen Kindheit wichtige Weichen gestellt werden, ist es insbesondere für die Pädagogik noch wichtiger zu sagen „Mentalisieren bringt Mentalisieren hervor, und Nicht-Mentalisieren bringt Nicht-Mentalisieren hervor“ (Allen, Fonagy & Bateman, 2011, S. 46). Darum sind von Beziehungen getragene pädagogische und didaktische Prozesse immer auch Mentalisierungsprozesse des Verstehens.
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?1. Mentalisieren ist auch in pädagogischen Settings so alltäglich wie hochwirksam.
2. Die Mentalisierungstheorie kann empirisch deutlich belegen, dass das Verstehen von individuellem oder kollektivem Verhalten (biografisch, entwicklungspsychologisch, situativ) hohe Lernerfolge beim psychosozialen und kognitiven Lernen mit sich bringt.
3. Mentalisieren hat einen moderierenden Einfluss auf pädagogische Beziehungsgestaltung. Beziehung ist Grundlage aller pädagogischen Interaktionen insbesondere in der emotionalen und sozialen Entwicklung.
4. Viele Verhaltensauffälligkeiten können entweder über biografisch oder situativ bedingte Mentalisierungseinbrüche unter (Beziehungs)Stress verstanden und beeinflusst werden.
5. Mentalisierende Organisationen fördern mentalisierende pädagogische Fachkräfte und schaffen ein gesundes Klima. In diesem wird psychosoziales Lernen (Selbstwirksamkeit, Resilienz, Gruppenfähigkeit, etc.) und kognitives Lernen (wieder) möglich werden, weil Mentalisiert-Werden (z.B. über markierte Spiegelungen) in jedem Alter weitere Mentalisierungsprozesse nach sich zieht.
6. Reflexive Mentalisierungsprozesse sorgen über das Verstehen in Supervision und Fallarbeit auch bei den pädagogischen Fachkräften für eine wichtige Entlastung. Sie wirken im günstigsten Fall als Prophylaxe, als Stressregulativ oder als Burn-Out-Prävention bei den unter pädagogischen Fachkräften weit verbreiteten psychosomatischen Erkrankungen.
Grenzen1. Damit pädagogische Mentalisierungsprozesse gerade auch bei belasteten Kindern und Jugendlichen ihre Wirkung entfalten können, braucht es institutionelle Strukturen, die dies organisatorisch ermöglichen. Diese zu schaffenden Strukturen stellen in der Regel einen Kostenfaktor dar (Fortbildung, Supervision, etc.)
2. Nur wenn eine reflexive Haltung institutionell tatsächlich auch inhaltlich erwünscht ist und diese, wenn sie ins Stocken gerät, systemisch oder interaktionell wieder angeschoben wird, kann auch (wieder) mentalisierend gearbeitet werden.
3. Nicht-Mentalisierendes Vorgehen bei jungen Menschen, die extrem herausforderndes Verhalten zeigen, ist reflexartig naheliegend aber nur selten entwicklungsförderlich.
4. Unter der Prämisse, dass bei hoch belasteten Kindern und Jugendlichen, die extrem herausforderndes Verhalten zeigen, Mentalisieren gerade dann am wichtigsten ist, wenn es am schwersten fällt, muss anerkannt werden, dass sich die Stressresistenz von pädagogischen Fachkräften über geleitete Mentalisierungsprozesse (z.B. Supervision) nur allmählich erhöht.
Diagnostische Fragen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Wann gelingt es einem jungen Mensch, sich, andere oder Gruppen zu mentalisieren?
- Wie kann die Mentalisierungsfähigkeit des jungen Menschen anhand der Mentalisierungstheorie beschrieben werden?
- Welche mentalen Zustände und Szenen führen zu Mentalisierungseinbrüchen beim Kind?
- Wie kann dies biografisch, entwicklungspsychologisch oder situativ verstanden werden?
- In welchen Situationen haben pädagogische Fachkräfte Schwierigkeiten, eine mentalisierende Haltung mit und gegenüber dem Kind oder einer Gruppe aufrecht zu erhalten?
- Trägt die Institution und man selbst genügend dazu bei, dass im Rahmen einer konstanten Professionalisierung ausreichend Räume zum Mentalisieren der beruflichen Interaktionen und Strukturen gegeben sind?
- Gibt es Bereiche/ Themen, in denen die Mentalisierungsfähigkeit der pädagogischen Fachkräfte grundlegend so eingeschränkt ist, dass im Sinne der Gesunderhaltung des Personals strukturelle Veränderungen erforderlich sind?
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
Es liegen bisher leider noch keine konkreten diagnostischen Methoden vor. Es existieren Forschungsinstrumente, die für eine Nutzung in der pädagogischen Praxis bisher allerdings nicht geeignet sind.
Impulse für die Gestaltung individueller BildungsangeboteAkute Interventionen
Unter https://mented.de findet sich ein „Werkzeugkasten“ mit konkreten mentalisierungsförderlichen Übungen und Methoden.
Längerfristige Interventionen
Das Etablieren einer mentalisierenden Kultur wurde in Twemlow, Fonagy Staco (2005) breit empirisch untersucht und beschrieben. Eine mentalisierende Haltung als Grundlage einer solchen Kultur kann nur systemisch eingeführt werden. Dieser Change-Prozess stellt für einzelne Mitarbeitende eine unter Umständen angstauslösende Veränderung dar, dem mit entsprechenden Fortbildungen, finanziellen Mitteln und veränderten Strukturen begegnet werden muss.
Formelle Trainings
Ab 2022 werden von Mented.de (https://mented.de), dem Netzwerk für „Mentalisierungsbasierte Pädagogik“, verschiedene formelle Trainings in mentalisierungsbasierter Pädagogik angeboten.

Literatur

Allen, J. G., Fonagy, P., & Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta.

Brockmann, J., Kirsch, H. (2015). Mentalisieren in der Psychotherapie. Aus Psychotherapeutenjournal, 1, 13-22. Abgerufen von https://www.psychotherapeutenjournal.de/ptk/web.nsf/id/li_ausgabe_1-2015.html

Gingelmaier, S., & Schwarzer, N. H. (2019). Beziehung, Beziehungsgestaltung und Mentalisieren. Aus Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 3, 12-18. Abgerufen von http://www.szh-csps.ch/z2019-03-02/

Gingelmaier, S., & Schwarzer, N. H. (2019). Mentalisierungsförderung als Bildungsziel im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. Theorie, Empirie und Praxis. Aus Zeitschrift für Heilpädagogik, 70, 652-661. Abgerufen von https://www.verband-sonderpaedagogik.de/zeitschrift/zfh-artikel.html?zfhid=35398

Gingelmaier, S., Taubner, S., & Ramberg, A. (2018). Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Abgerufen von eLibrary.

Hausberg, M. C., Schulz, H., Piegler, T., Happach, C. G., Klöpper, M., Brütt, A. L., … Andreas, S. (2012). Is a self-rated instrument appropriate to assess mentalization in patiens with mental disorders? Development and first validation of the Mentalization Questionnaire (MZQ). Aus Psychotherapy Research, 22, 699-709. doi: 10.1080/10503307.2012.709325

Schultz-Venrath, U. (2013). Lehrbuch Mentalisieren: Psychotherapien wirksam gestalten. Stuttgart: Klett-Cotta.

Schwarzer, N. H. (2019). Mentalisieren als schützende Ressource. Eine Studie zur gesundheitserhaltenden Funktion der Mentalisierungsfähigkeit. Abgerufen von https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-658-25424-7

Twemlow, S., Fonagy, P. & Sacco, Frank. (2005). A developmental approach to mentalizing communities: II. The Peaceful Schools experiment. Bulletin of the Menninger Clinic. 69. 282-304. 10.1521/bumc.2005.69.4.282.

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