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Gruppe, Gruppendynamik

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2022). „Gruppe, Gruppendynamik“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:wsd:verhalten:theorien_verhalten:gruppendynamik, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungGruppe stellt ein soziales, dynamisches und begrenzendes Kommunikations- und Interaktionssystem dar. Sie hat ein hohes Potential als direkter und indirekter Lern- und Erfahrungsraum. Allerdings ist sie nicht linear steuerbar und verarbeitet und kommuniziert Einflüsse individuell und systemisch, bewusst und unbewusst autonom. Dies macht die Arbeit mit Gruppen z.B. in der Pädagogik so reizvoll wie komplex (Gingelmaier, 2021, in Teilen n. König & Schattenhofer, 2012).
Dabei ist weiterhin zu sagen, dass die allermeisten institutionalisierten pädagogischen Angebote Gruppenangebote sind (Schule, Kita, Tagesgruppe, Wohngruppe usw.). D.h. Gruppen sind in der Pädagogik nicht nur als „notwendiges Übel“ zu sehen, weil man so z.B. kostensparend eine größere Anzahl von jungen Menschen mit einem pädagogischen (Pflicht-)Angebot versorgen kann. Sie bilden vielmehr über die Funktion des sozialen Lernens eben auch ein nicht zu unterschätzendes Fundament für Bildungs- und Erziehungsprozesse: Pädagogische Gruppen werden als Lernfeld und Probenraum entworfen, sie sind ein pädagogisch beanspruchter Schonraum indem sie und ihre Mitglieder in einer von pädagogischen Fachkräften definierten Weise mit der Realität konfrontiert werden. (vgl. Schrapper, 2015)
Dabei gilt es zur Steuerung und für die pädagogische Nutzung von Gruppen insbesondere auf Gruppendynamiken zu achten.
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?In gruppendynamischen Prozessen wirken Formen von psychosozialen und handelnden Bewegungen innerhalb einer Gruppe zusammen, die aus verschiedenen Motiven oftmals ohne ein bewusstes Wissen in einer Funktion ausgeführt werden. Gruppendynamiken sind meist (stark) affektiv aufgeladen und können bei vulnerablen oder beschädigten Gruppenkonstellationen in Kombination z.B. mit aufheizenden Ereignissen (und/oder entsprechenden enthemmenden psychoaktiven Substanzen) und Manipulationen zu mitunter heftigen (z.B. gewaltvollen) Entfesselungen solcher Affekte führen.
Auf Gruppenbildungen und -dynamiken haben u.a. folgende Faktoren Einfluss:
- die Leitperson und die Leitungsform
- die einzelnen Mitglieder und Untergruppen in der Gruppe
- die psychosozialen Bewegungen und Themen der Gesamtgruppe oder von Untergruppen
- die Funktion einer (z.B. unproduktiven oder destruktiven) Gruppendynamik (z.B. was versucht die Gruppe abzuwehren?)
- die Gruppengröße
- die Methode, das Setting (z.B. Maß an Strukturierung) und die spezifische Gruppenkultur
- die impliziten und expliziten Gruppenziele, (z.B. formelle/informelle Bildung, Freizeit, Bewältigung, Selbsterfahrung, Heilbehandlung)
- die Gruppe beherbergende jeweilige spezifische Institution (Schule, Kita, Jugendhilfe, Klinik)
Kinder und Jugendliche, die in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung z.B. Schwierigkeiten in der Emotionsregulation haben und dies über auffälliges Verhalten zu verstehen geben, sind oft mit Gruppen und Gruppendynamiken überfordert, weil diese die Verarbeitungshindernisse und die individuellen Regulationsschwierigkeiten zu potenzieren scheinen. Auf vielfältige Arten haben diese Kinder und Jugendliche Probleme, Gruppen und Gruppendynamiken zu lesen (d.h. zu verstehen), was verschiedene Auswirkungen haben kann. So finden diese Kinder und Jugendlichen keinen Zugang zu Gruppen, fühlen sich, bzw. werden ausgeschlossen oder können sich von gruppendynamischen Prozessen zu wenig abgrenzen und laufen Gefahr, bis hin zur Selbst- oder Fremdgefährdung überdreht, provokant, wild und wagemutig zu werden. Dazu kommt auch ein häufiges Ablenken anderer bzw. abgelenkt und unkonzentriert sein durch die Gruppendynamik. Dies führt häufig zu Lernschwierigkeiten, was wiederum in enger Wechselwirkung zu auffälligem Verhalten steht.
GrenzenMöglicherweise besteht in der (Schul-)Pädagogik gegenwärtig eine Überbetonung des Individuellen und der Individualisierung. Sozialisation, Gemeinschaft und die Fähigkeit sich auf eine Gruppe als Kollektiv produktiv einzulassen, sich anzupassen und diese zu gestalten - und sie eben nicht zu kontrollieren oder boykottieren – all das wird in pädagogischen Prozessen womöglich zu wenig berücksichtigt. Schule muss sowohl kognitives wie auch emotional-soziales Lernen ermöglichen. Ersteres erfolgt über z.B. Didaktisierung, zweiteres v.a. über Reflexion und soziales Lernen. Dabei sind produktive Gruppenerfahrungen elementar. Beide Ziele von Bildung und Erziehung haben einen direkten und erheblichen Einfluss aufeinander.
Diagnostische Fragen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Aus welchen Einzelteilen setzt sich eine Gruppe (z.B. Klasse) zusammen?
- Wie lässt sich das aktuelle (Entwicklungs-)Thema der Gesamtgruppe beschreiben?
- Wie kann an einer produktiven Gruppenidentität gearbeitet werden?
- Wie kann die Gruppenkohäsion so erhöht werden, ohne, dass die Gruppe sich zu sehr von anderen abgrenzen muss? (Besser: Wer sind wir? als: Wer sind wir nicht!)
- Wie und an welchen Stellen kann soziales Lernen in der Klasse explizit und implizit umgesetzt werden?
- Welche Kinder fühlen sich von Gruppenkonstellationen überfordert? Ab welcher Gruppengröße? Bei welchen Anlässen?
- Welche Kinder und Jugendlichen haben Schwierigkeiten, in eine Gruppe zu finden?
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
- Netzwerkkarten
- Viele gruppendynamische Übungen und Spiele können sowohl zur informellen Diagnostik wie auch zur Förderung von Gruppenkohäsion und produktiven Gruppendynamiken eingesetzt werden.
Impulse für die Gestaltung individueller BildungsangeboteAkute Interventionen
Dazu zählen gruppendynamische Übungen, die zum Entwicklungsstand der Gruppe passen, diese also fordert aber nicht überfordert. Ansonsten droht gerade bei vulnerablen Kindern und Jugendlichen entweder der Ausschluss oder eine Überidentifikation mit der Gruppe.
Längerfristige Interventionen
Pädagogische Fachkräfte sollten versuchen, nicht nur die Individuen, sondern auch (Teil-)Gruppen direkt in die Planung ihrer Bildungsangebote zu integrieren. Die anzustrebende Gruppenfähigkeit des Individuums ist ein Entwicklungsprozess, der eine große Rolle für den einzelnen jungen Menschen und für das Gelingen von Schule als kognitives und soziales Lernfeld spielt.

Literatur

Gingelmaier, S. (2021). Modul 3: Mentalisierungsfördernde Arbeit in und mit Gruppen. Unveröffentlichter Foliensatz aus dem Erasmus+ Mentalisierungstraining für pädagogische Fachkräfte.

König, O., Schattenhofer, K. (2012). Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg: Carl-Auer-Compact.

Schrapper, C. (2015). Die Gruppe als Mittel zur Erziehung – Gruppenpädagogik. In C. Edding, K. Schattenhofer (Hrsg.), Handbuch - Alles über Gruppen (S. 186-208). Weinheim: Beltz

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

wsd/verhalten/theorien_verhalten/gruppendynamik.txt · Zuletzt geändert: 2023/01/30 13:13 von Romina Rauner