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Familientheorie, Familiensystem, familienorientierte Interventionen

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2022). „Familientheorie, Familiensystem, familienorientierte Interventionen“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:wsd:verhalten:theorien_verhalten:familie, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungDie Familiensystemtheorie ist die Basis für alle weiteren Familientheorien. „In der neueren familienorientierten Anwendung der Systemtheorie werden Familien als offene, sich entwickelnde, zielorientierte und sich selbst regulierende Systeme betrachtet“ (Stanton, 2009, S. 101). Der systemische Denkansatz beschränkt sich nicht nur auf diese eine Theorie, sondern ist die Basis für weitere Theorien (Schneewind, 2010, S. 103). Ein Familiensystem ist ein Rollenkomplex, der aus den individuellen Rollenmustern der einzelnen Mitglieder besteht. Die dafür bedeutsame Familienentwicklungstheorie entstammt dem Bereich der Familiensoziologie und baut auf drei Grundannahmen auf: (1) Erfahrungen und Zukunftserwartungen prägen das aktuelle familiäre Verhalten. (2) Familien in gleichen Lebensphasen zeigen vergleichbare Verhaltensweisen. (3) Familien stehen im Laufe ihres Zusammenlebens vor selbst gestellten Herausforderungen und vor solchen, die sich durch gesellschaftliche Erwartungen ergeben (Schneewind, 2010, S. 106). Die Familienstresstheorie besagt, dass Familienstressoren Lebensereignisse bezeichnen, die mit Veränderungen im Familiensystem und weiteren Belastungen verbunden sind (ebd., S.110). Hill entwickelte ein Familienkrisenmodell, genannt das ABCX-Modell. Es besagt, dass ein Stressor erst in der Interaktion mit den Krisenbewältigungsressourcen sowie der Wahrnehmung der Beteiligten eine Krise erzeugt. Diese Krise wiederum kann zur Kumulation von weiteren Stressoren führen, welche zusätzlich bewältigt werden müssen (ebd., S.109). Nach Homans Austauschtheorie hängt die Motivation für die Aufrechterhaltung von Beziehungen von dem Kosten-Nutzen-Faktor ab, der sich für die Individuen ergibt (ebd., 125). Die Individuen streben in ihrem Verhalten nach der Maximierung ihres Nutzenfaktors. Die Austauschtheorie kann familiäres Verhalten erklären (Hill & Kopp, 2015, S. 226). Nach Oevermann gibt es zwei Typen von Sozialbeziehungen in Familien: die Eltern-Kind-Beziehung und die Ehegatten-Beziehung. Die Beziehungen treten zueinander in Konkurrenz, gleichzeitig besteht ein Anspruch auf Solidarität. Daraus entsteht ein Widerspruch (Funcke & Hildenbrand, 2018, S. 189). Die Familie ist also eine notwendig widersprüchliche Einheit, wobei nach Oevermann die Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchen die zentrale sozialisatorische Leistung der Familie darstellt. Das Kind sammelt hierbei Erfahrungen, an denen es sich orientiert und im besten Fall ein autonomes Selbst entwickelt. Die erfahrene Zuneigung und Fürsorge zwischen den Eltern und derjenigen zum Kind bildet die Grundlage von Vertrauen. Dieses ist die Basis menschlicher Bildungsprozesse. Das Kind wird insbesondere entsprechend dieser Erfahrungen auf den Umgang mit Konflikten und auf eine durch Fremdheit bestimmte Sozialwelt vorbereitet (ebd., S.194). Ein weiterer Widerspruch, den eine Familie zu bewältigen hat, ist das Dilemma zwischen der Vorbereitung des Kindes auf die Außenwelt (Adaption) und der Bewahrung von Familiengrenzen als Schon- und Intimraum (Integration). Die erfolgreiche Bewältigung dieses Widerspruchs zeigt sich an der Aufgabe einer Ablösung des Kindes/Jugendlichen aus der Familie (ebd., S. 210).
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?Kinder, die durch ihr Verhalten auffallen, müssen immer auch als Person in einem Familiensystem bzw. als Teil weiterer Systeme gesehen werden. Die Ursache für das Verhalten darf nicht allein beim Kind gesucht werden, sondern die gesamten jeweiligen Systeme mit ihren jeweiligen Konstellationen und Rollen müssen genauestens betrachtet werden. Familientheorien stellen hierbei die wissenschaftliche Grundlage dar. Die Familiensystemtheorie geht in einer Art Kommunikationstheorie davon aus, dass menschliches Verhalten innerhalb eines Systems eine Rolle erfüllt. Es kann aus verschiedenen psychosozialen Gründen zu systemischen Kommunikationsstörungen kommen. Die Familientherapie hat hierfür ein Repertoire an systemischen Konstellationen entwickelt, die die Familiendynamik genauer beschreiben (Reich, Massing & Cierpka, 2007). Die professionelle Haltung in der Familienarbeit ist Allparteilichkeit. Die professionelle Person verpflichtet sich keiner der unterschiedlichen Perspektiven sondern dem Austausch darüber. Familiendynamisch lohnt es sich mindestens Informationen über drei Generationen zu erfragen. Dabei ist es immer wichtig, das spezifische Familiengefühl als unbewusstes verbindendes oder tarnendes Bild der Familie zu verstehen. Gibt es Familienmythen, Familiengeheimnisse oder Tabus, die systemisch abgewehrt werden müssen, aber bei einzelnen Familienmitgliedern Symptome evozieren? Wie ist die Balance von Geben und Nehmen in der Familie austariert usw.?
GrenzenDie systemischen Verfahren zeigen gerade in der sonderpädagogischen Diagnostik unerlässlich die immense Bedeutung von Kontext, Kontextualisierung und darin liegender (nicht) gelingender Kommunikation auf. Allerdings ist eine Gefahr, dass das Individuum in seiner Einzigartigkeit und mit seinen spezifischen Stärken und Schwächen nur noch als „Spielball“ des Systems gesehen wird. Individualität und biografisches Gewordensein können massiv an Bedeutung verlieren. Dies bedingt auch die Schwierigkeit, dass systemische Interventionen mitunter als manipulativ und für das Individuum hart empfunden werden können, da das Ziel der systemischen Intervention ist, das System zu stören. Dies kann auf individueller Ebene im Falle einer leichtfertigen Verwendung systemischer Interventionen z.B. zu Retraumatisierungen führen.
Diagnostische Fragen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Was ist über eine mögliche Mutter(figur) bekannt?
- Was ist über eine mögliche Vater(figur) bekannt?
- Was ist über Geschwister(figuren) bekannt?
- Was ist über zeitliche, psychosoziale systemische Familienzusammenhänge bekannt? (Vorsicht vor zu schnellen Festlegungen!)
- Welche Funktion könnte auffälliges Verhalten für ein jeweiliges Familiensystem haben?
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
- Genogrammarbeit
- Familie in Tieren
- Family Relations Test: Deutschsprachige Adaptation für Kinder und Jugendliche des Family Relations Test: Children’s Version (FRT-C)
- Die verzauberte Familie
- Familien-Beziehungs-Test
- Familiensystemtest
- Die Familienbögen
- Einschätzung von Partnerschaft und Familie
- Eltern-Belastungs-Inventar
- Familien-Identifikations-Test
- Strukturiertes Interview zur Erfassung der Kind-Eltern-Interaktion (Familienrecht)
- Das Subjektive Familienbild
- Familienaufstellungen: Alle Formen von Familienaufstellungen mit realen Personen (nicht also mit Stellvertretern wie Playmobilfiguren, Spielfiguren, Gummibärchen usw.) sind ein hochdynamisches und teilweise sehr effektives Mittel. Sie bedürfen aber einer gesonderten langjährigen Ausbildung, eines geschützten Rahmens und der Möglichkeit, verantwortlich mit Dekompensationen bei Teilnehmenden umzugehen.
Impulse für die Gestaltung individueller BildungsangeboteAkute und präventive Interventionen
Bewusste Formen der präventiven Einbindung (Regelmäßige Kooperationstreffen mit der Familie, ritualisierte Formen des regelmäßigen Austauschs, etc.) und des Autonomieerlebens (z.B. Wert legen auf geplante Gespräche, spontane Gespräch/Telefonate nur bei dinglicherem Bedarf, Landschulheim/Schulleben auch ohne direkte Familienbeteiligung, usw.)

Längerfristige Interventionen
Generell muss überlegt werden, wie eine sonderpädagogische Diagnostik die jeweilige Familienkommunikation intern aber auch z.B. mit pädagogischen Institutionen wie der Schule evaluieren und wenn nötig verbessern kann. Das Kind bzw. die:der Jugendliche muss das Gefühl haben, dass sein tatsächliches Familiensystem in der Schule akzeptiert ist und dass das pädagogische Personal und die Erziehungsberechtigten in respektvollem und zumindest in Teilen vertrauensvollem Kontakt miteinander stehen. Gleichzeitig muss sich Schule auch als Raum etablieren, in dem sich Kinder und Jugendliche unabhängig von den Eltern entwickeln und individualisieren können insbesondere dann, wenn sie dysfunktional in Systeme verstrickt sind.

Formelle Trainings
Multifamilientherapie https://bag-mft.de
Systemische Beratung https://www.dgsf.org/service/weiterbildungsdatenbank, https://systemische-gesellschaft.de/weiterbildung/
Für die sonderpädagogische Frühförderung auch Systemische Familientherapie https://www.dgsf.org/service/weiterbildungsdatenbank, https://systemische-gesellschaft.de/weiterbildung/

Literatur

Becker, R. (2008). Ein normales Familienleben: Interaktion und Kommunikation zwischen „rechten“ Jugendlichen und ihren Eltern. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Burkart, G. (2008). Familiensoziologie. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

Funcke, D., Hildenbrand, B. (2018). Ursprünge und Kontinuität der Kernfamilie: Einführung in die Familiensoziologie. Wiesbaden: Springer VS.

Hill, P. B., Kopp, J. (2015). Handbuch Familiensoziologie. Wiesbaden: Springer VS.

Reich, G., Massing, A., & Cierpka, M. (2007). Praxis der psychoanalytischen Familien- und Paartherapie. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Schneewind, K. (2010). Familienpsychologie. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Stanton, M. (2009). The systemic epistemology of the specialty of family psychology. In J. H. Bray & M. Stanton (Eds.), The Wiley-Blackwell handbook of family psychology (pp. 5-20). Chichester: Wiley-Blackwell.

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

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