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Armut

Zitiervorschlag: Rieß, A. (2020). „Armut“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:armut, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungDer Begriff der Armut steht in Relation zum jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen (Kohler-Gehrig 2019). Die relative Armut wird in der EU als Prozentwert unterhalb des mittleren Einkommens der Bevölkerung ausgedrückt. So wird 60% des Äquivalenzeinkommens als Armutsschwelle, 50% als Armut und 40% als strenge Armut bezeichnet. 2018 galt fast jedes vierte Kind in Deutschland als arm (Tophoven et al. 2018).
Die statistischen Werte sagen wenig über die konkrete Lebenssituation aus, da der tatsächliche finanzielle Bedarf wie Wohnkosten, zusätzliche Kosten aufgrund von Krankheit oder Behinderung etc. sowie die Unterstützung der Familie oder Ämter unterschiedlich sein können. Der Lebenslagenansatz misst Armut an den verfügbaren Handlungsspielräume hinsichtlich Ernährung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Arbeitsplatz, Bildung, Teilhabe an Kommunikation, Transport und kulturelle Aktivität (Hauser 2018). Man kann von einem subjektiv erlebten Mangel an Verwirklichungschancen sprechen.
Armut kann zeitlich begrenzt oder langanhaltend, gar über Generationen hinweg, bestehen. Von struktureller Armut wird gesprochen, wenn es wenig Chancen gibt den Armutskreislauf zu durchbrechen. Dies bedeutet, dass Kinder von Familien unter der Armutsgrenze, Gefahr laufen ebenfalls ihr Leben lang arm zu bleiben.
„Es gibt demnach keine universelle Definition von Armut. Für die Beschreibung und Analyse ist ein ganzheitlicher Blick auf die individuelle Armutslagen erforderlich, der über das Verständnis von Armut als Einkommensarmut hinausgeht“ (Rahn, P.; Chassé, K.A. 2020).
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?Es ist zu unterscheiden, ob die Armutssituation vor allem die finanzielle Seite betrifft oder ob eine Familie unter einer multidimensionalen und schwerwiegenden Unterversorgung in zentralen Lebensbereichen leidet. Gemeint sind damit die Bereiche Einkommen, Arbeit, Wohnen, Ernährung, Bildung, Gesundheit und psychisches Wohlergehen. In der folgenden Tabelle werden den Themenfelder statistisch signifikante Auswirkungen von Armut zugeordnet.
Themenfeld Biografische EntwicklungArmut kann (sich) …
- auf das Gesundheitsverhalten der Eltern (auch in der Schwangerschaft) auswirken
- auf häufigere Spannungen in der elterlichen Partnerschaft auswirken.
- auf Selbstbewusstsein der Eltern auswirken.
- auf eine häufigere Entwicklung von psychischen Erkrankungen bei den Eltern auswirken.
- auf die Strafneigung der Eltern auswirken.
- auf einen notwendigen Verzicht im Alltag und ein eher seltener als positiv erlebt Freizeitgestaltung auswirken.
- mit höherer Wahrscheinlichkeit längerfristig in der Familie etablieren. Armut besteht häufig bereits länger in der Familie.
- auf das Erleben von Entmündigung und Beschämung auswirken.
- das Erleben von Stigmatisierung und das Erleben von Zerrieben werden zwischen Vorurteilen fördern.
- auf die Wohnverhältnisse in armutsgeprägten Stadtteilen auswirken.
- auf eine Ausstattungsbenachteiligung bei Medien, digitalen Medien und Medienerziehungsstilen auswirken.
Themenfeld FamiliendynamikArmut kann (sich)…
- auf die Wahrnehmung von Stress und Belastung durch häufige Überforderungssituationen auswirken.
- auf das negative Erleben von ökonomischem Druck, Arbeitsverdichtung, Intensivierung und Rationalisierung verstärkt auswirken. Dies kann zu Erschöpfung führen.
- insbesondere bei alleinerziehenden Eltern auf das Erleben von Druck und Perfektionierung auch in der Beziehungsgestaltung mit ihren Kindern auswirken.
- Auswirkung auf die Entwicklung einer familiären Erschöpfung haben.
- Auswirkungen auf die psychische Belastung bei den Eltern und sich damit auf eine positive Beziehungsgestaltung und Interaktion in der Familie auswirken.
- zusätzlichen Stress und Konflikte durch wenig Wohnraum fördern. Arme Kinder haben deutlich seltener ein eigenes Kinderzimmer. Dadurch ergeben sich weniger Regenerationsmöglichkeiten aufgrund fehlender Rückzugsmöglichkeiten, fehlende Ruhe und fehlender Platz zur Erledigung von Hausaufgaben. Es erschwert sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen durch fehlende Besuchsmöglichkeiten.
- auf die Feinfühligkeit der Eltern und Geschwister gegenüber kindlichen Bedürfnissen auswirken.
- auf Erziehungsstile auswirken. Eltern sehen ihre Kinder häufig kritischer und neigen zu härteren Strafen
- :… auf einen Wechsel zwischen Müdigkeit (verbunden mit wenig erzieherischer Kontrolle) und Sorge (damit einhergehende übermäßiger Strenge) im Erziehungsverhalten der Eltern auswirken. Daraus ergibt sich ein inkonsistentes Erziehungsverhalten.
- auf das Fokussieren von Statussymbolen auswirken. „Konsum stiftet Teilhabe und subjektiven Lebenssinn und stellt für Familien und Kinder oft das zentrale Medium der Statusdemonstration dar.“(Richter 2000b:57)
- auf das Erziehungsverhalten von Vätern wirken. Sie sind weniger präsent in der Familie, was insbesondere für sechs – zwölf Jahre alte Jungs eine fehlende Ressource ist (Laubstein et al. 2016).
Themenfeld SelbstArmut kann…
- sich auf ein Minderwertigkeitsgefühl mit folgenden für seelisches Wohlbefinden auswirken. Fast die Hälfte der armen Eltern gaben an, dass sie sich beim Kauf von (Kinder-)Kleidung einschränken müssen (Laubstein et al. 2016). Es entsteht eine Erlebte Abhängigkeit von Dritten, z.B. Ämter.
- bewirken, dass Kinder ihre Armut unsichtbar machen wollen, indem sie sich auf Statussymbole der Kinder und Jugendkultur fokussieren.
- zu einem Rollentausch zwischen Eltern und Kinder führen.
Themenfeld individuelle VoraussetungenArmut kann sich…
- auf eine weniger anregende Lernumgebung auswirken. (Wohnraum, gemeinsames Spiel, Mediennutzung, Ausflüge mit der Familie etc.)
- auf entscheidende Entwicklungsschritte (Meilensteine) in der Frühen Kindheit bis zum Schuleintritt auswirken z.B. weniger erste Erfahrungen im Umgang mit Kulturtechniken.
- auf die kognitive Entwicklung auswirken (Rahn et al. 2020).
- auf die sprachliche Entwicklung auswirken (Rahn et al. 2020).
- auf die motorische Entwicklung auswirken (Rahn et al. 2020).
- auf die Entwicklung der Wahrnehmung auswirken.
- auf das Erlernen von Schlüsselqualifikationen in nicht formellen Settings auswirken (Rahn et al. 2020)
- auf das Erlernen von gesellschaftlich relevantem Wissen in nicht formellen Settings auswirken.
Themenfeld GesundheitArmut bewirkt…
- dass bei der Ernährung Versorgungsengpässe auftreten können.
- ein höheres Risiko auf Übergewicht.
- ein höheres Risiko auf Asthma.
- ein vermehrtes Auftreten von Schlafstörungen.
- ein vermehrtes Auftreten von Kopf- und Magenschmerzen.
- ein häufigeres Auftreten psychische Auffälligkeiten: Depression, Ängstlichkeit, Traurigkeit, Wuterleben.
- ein geringeres Niveau an psychischem Wohlbefinden (13% höheres Risikowahrscheinlichkeit aufgrund von Diskriminierung).
- ein geringeres Niveau an Aufmerksamkeit und Konzentration.
- eine geringere Pflege der Mundgesundheit.
Themenfeld (vor-) schulischer KontextArmut zeigt sich…
- bei der Quote an Klassenwiederholungen.
- beim Vergleich von Durchschnittsnoten. (Im Schnitt eine Note schlechter)
- am Gelingen von Übergängen.
- bei der Bewertung von Leistungen. (Strengere Bewertung durch die Lehrpersonen)
- daran, dass Lebenspraktiken und Alltagskultur der Kinder / Schüler:innen in den Einrichtungen (Kindergarten/ Schule) häufig keine Rolle spielen.
Themenfeld PeerbeziehungKinder/ Jugendliche aus armen Familien…
- erwerben eher weniger Sozialkompetenzen was wiederum Auswirkungen auf Teilhabe in einer Peergruppe haben kann.
- sind seltener Mitglied in einem Verein.
- fühlen sich häufig durch Gleichaltrige abgelehnt.
- verfügen durchschnittlich über kleinere Freundeskreise.
- sind weniger zufrieden mit den bestehenden Freundschaftsbeziehungen.
- erleben häufiger soziale Isolation im Schulkontext.
- spielen in der Freizeit häufiger im öffentlichen Raum.
- begegnen sich häufiger im öffentlichen Raum.
- bleiben in Freundschaften eher unter sich (auch bedingt durch segregierte Wohnquartiere) - Milieu übergreifende Peer-Kontakte außerhalb der Institutionen werden seltener. Dies liegt auch der „Verhäuslichung“ von Kindern und der „Terminkindheit“.
- besuchen seltener kommerzielle Freizeitangebote.
Themenfeld weiteres SozialesKinder/ Jugendliche aus armen Familien…
- erleben Stigmatisierungsprozesse z.B. durch Wohnen in segregierten Quartieren.
- erlernen sozial erwünschtes Verhalten des Quartiers.
- sammeln Erfahrung mit weniger soziale Kontrolle des Umfeldes.
- haben weniger Zugang zu kulturellen Einrichtungen.
Wo sind Grenzen für die Erklärung von Verhalten?Armut kann den Lebensraum und die Entwicklungschancen von Kindern stark begrenzen. Es kommt zu belastenden Situationen der Familien, die es fallspezifisch zu beschreiben und zu bewerten gilt. Dabei kann deutlich werden, wie sich Armut auf die Erfahrungen des Kindes auswirkt, die Entwicklung von Fertigkeiten begrenzt, die gesundheitliche Situation und das Wohlergehen in Familie und Peergroup das Kind belastet und damit auf das beobachtete Verhalten auswirkt. Dennoch kann die voranstehende Tabelle nicht für einen einseitigen Lage – Wirkungszusammenhang bei der Hypothesenbildung zwischen Armut und Verhalten genutzt werden. So zeigen qualitative Studien, dass es eine große Spannbreite der Qualität der Familienbeziehungen auch in armen Familien gibt und auch bedeutsame Faktoren der Resilienz sich ergeben können. Die sozioökonomische Situation des Kindes und deren Auswirkung in den einzelnen Themenfeldern gilt es so konkret wie möglich zu erfassen. In der Folge können mit der Hilfe von Erklär-Theorien wie z.B. Lernen am Modell, Behavioristische Ansätze, Kenntnisse von Wirkung von Scham und Beschämung oder Motivation usw. Zusammenhänge zwischen der sozioökonomischen Situation und dem Verhalten erkannt werden. So Lernen Kinder beim Spiel durch Lernen am Modell spezifische Regeln und Handlungsweisen des Quartieres oder zeigen Ausweichtendenzen Aufgrund von Scham, wenn es um Erzählungen zum Wochenende geht.
Diagnostische Fragen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Wie können die Belastungen in der Familiendynamik durch die Armut beschrieben werden?
- Welche Auswirkung hat die Armut auf die Entwicklung des Kindes?
- Lassen sich gesundheitliche Auswirkungen durch die Armut beschreiben?
- Welche Strategie entwickelt das Kind im Umgang mit der Armut?
- Welchen Einfluss übt die Peergroup auf das Kind aus?
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
Für die konkrete Diagnostik werden vor allem informelle Beobachtungen und Interviews empfohlen. Da Armut häufig durch die Familie aus Scham als „Familiengeheimnis“ bewahrt wird, müssen Erzählungen der Kinder sowie Eltern mit eigenen Beobachtungen und der eigenen Intuition verknüpft werden.

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017). Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin.

Laubstein, C., Holz, G., Seddig, N. (2016). Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann.

Rahn, P., Chassé, K.A. (Hrsg.) (2020). Handbuch Kinderarmut. Opladen & Toronto: Utb.

Kohler-Gehrig, E. (2019). Armut heute, Eine Bestandsaufnahme für Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer.

Hauser, R. (2018). Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext. In: Huster, B.; Boeck, J., Mogge-Grotjahn; H. (Hrsg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung (S.149-178). Wiesbaden: Springer.

Richter, A. (2000b). Wie erleben und bewältigen Kinder Armut? Eine qualitative Studie über die Belastungen aus Unterversorgungslagen und ihre Bewältigung aus subjektiver Sicht von Grundschulkindern einer ländlichen Region. Aachen. Shaker

Tophoven, S., Lietzmann, T., Reiter, S., Wenzig, C. (2018). Aufwachsen in Armutslagen. Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe. Gütersloh: Bertelsmann.

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

wsd/verhalten/theorien_verhalten/armut.txt · Zuletzt geändert: 2023/01/30 13:09 von Romina Rauner