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Persönlichkeitsstörungen F60

Zitiervorschlag: Urtimur, V. (2020). „Persönlichkeitsstörungen“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d17, CC BY-SA 4.0

ICD 10
bzw. 11

Eine Persönlichkeitsstörung bezieht sich nicht auf einzelne Verhaltensweisen und Symptome, sondern manifestiert sich in den Eigenschaften einer Person. Nach der ICD-10 werden sie in folgende Typen unterteilt: paranoide, schizoide, dissoziale, emotional instabile, histrionische, narzisstische, zwanghafte, ängstliche und abhängige Persönlichkeitsstörungen. Bei Jugendlichen tritt verstärkt die emotionale instabile Persönlichkeitsstörung auf. Histrionische und ängstliche vermeidende Persönlichkeitsstörungen treten bei Jugendlichen seltener auf, die restlichen oben genannten Typen kaum. Die einzelnen Typen können nicht klar voneinander abgegrenzt betrachtet werden, so dass Kriterien für mehrere Persönlichkeitsstörungen erfüllt sind und es zu Überschneidungen kommen kann. Die gestellte Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ im Jugendalter ist bei weitem nicht so beständig, als dies im Erwachsenenalter der Fall ist. Aufgrund der Häufigkeit emotional instabilen Persönlichkeitsstörung im Jugendalter wird diese differenzierter betrachtet:

F60.3 Emotionale instabile Persönlichkeitsstörung:
Generell können zwei verschiedene Erscheinungsformen unterschieden werden:

  1. Impulsiver Typus: Das Verhalten ist gekennzeichnet durch emotionale Instabilität (ständig wechselnde Gefühle) und mangelnder Impulskontrolle (erhöhte Aggressivität). Dieser Typus kommt häufiger bei Jungen vor.
  2. Borderline-Typ: Betroffene sind gekennzeichnet durch Störungen des Selbstbildes, einer chronischen Gefühlsleere, intensiver, aber unbeständiger Beziehungen, Neigungen zu selbstdestruktiven Verhaltensweisen und Suizidversuchen, die nicht mit einer primären Todesabsicht durchgeführt werden.

Statistik

  • Nahezu alle Studien zu Persönlichkeitsstörungen stehen im Zusammenhang mit Erwachsenen. Durch unterschiedliche Kriterien zeigen die Ergebnisse dieser Studien kein einheitliches Gesamtbild.
  • 3-8% der erwachsenen Bevölkerung erfüllt die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung
  • Bei Erwachsenen stellt die Persönlichkeitsstörung die häufigste Ursache für ein stationäre psychiatrische Behandlung dar.
  • Die Zahlen bei Jugendlichen liegen deutlich unter denen von Erwachsenen. Anzunehmen ist, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung darunter am häufigsten vorkommt.
  • Die Prognosen für histrionische, zwanghafte, abhängige und ängstliche Persönlichkeitsstörungen sind relativ gut.
  • Für schizoide, paranoide, dissoziale, Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörungen ist die Prognose derzeit eher ungünstig.

Ursachen und Risikofaktoren

  • Verschiedene Ansätze zeigen wahrscheinliche Ursachen, die genetische Gründe, minimale Hirnschädigungen, neuro-physiologische Veränderungen und die Lebensgeschichte in unterschiedlichem Ausmaß für die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen verantwortlich machen.
  • Individuelle traumatische, bedrohliche und herausfordernde Lebenssituationen wie z.B. Heimaufenthalte, Trennungs- und Verlusterlebnisse, unvollständige Familien, familiäre Gewalt, eine kühle Familienatmosphäre, Misshandlung, Missbrauch und psychisch erkrankte Eltern erhöhen bei Mädchen vor allem das Risiko einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und bei Jungen das einer dissozialen Persönlichkeitsstörung.

Komorbidität
je nach Quelle

  • Persönlichkeitsstörungen treten häufig gemeinsam auf, so dass ein vermischtes Symptombild der verschiedenen Typen entstehen kann.
  • Kombinationen mit anderen Störungsbildern kommen häufiger vor, u.a. Traumafolgestörungen, Bindungsunsicherheiten, psychotische Störungen, affektive Störungen und, Sucht. Beim Borderline-Typus kommen häufig zudem Essstörungen (v.a. Bulimie) vor.

Symptome

Bei einer Persönlichkeitsstörung sind einzelne Persönlichkeitseigenschaften so stark ausgeprägt, dass Alltagssituationen beeinträchtigen sind. Die betroffenen Personen nutzen ein eingeschränktes Repertoire von Verhaltensweisen und sind demzufolge nur bedingt in der Lage die entsprechenden Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster der erforderlichen Situationen anzupassen. In diesem Zusammenhang kommt es häufig zu Konflikten und Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung zu ihren Mitmenschen. Die Betroffenen haben nicht den Eindruck, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmen würde und können es nicht nachvollziehen. Dies erzeugt einen nicht unerheblichen Leidensdruck, der die Umwelt und andere Personen als ungerecht, schwierig und kaum aushaltbar wahrnehmen lässt.

Leitsymptome und mögliche Ausprägungen von Persönlichkeitsstörungen:

  • Betrifft mehrere Bereiche, vor allem Gefühle, Wahrnehmungen, das Denken und die Impulskontrolle: wechselnde heftige Gefühle, Schwierigkeiten, Gefühle bei sich und anderen zu erkennen und deuten zu können
  • Betrifft lange Zeiträume: sozialer Rückzug, starke Aufmerksamkeitssuche
  • Betrifft viele unterschiedliche Kontexte und Situationen: häufiger Streit mit Mitmenschen, manipulative Verhaltensweisen
  • Generelle Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung: Unfähigkeit, sich verändernden Gegebenheiten anzupassen, wenige oder ständig wechselnde Freunde
  • Einschränkungen in der schulischen und beruflichen Leistungsfähigkeit: Suchen und Herbeiführen von Streit und aggressiven Auseinandersetzungen, sie werden von Dritten eher als bösartig erlebt, anstatt hilfsbedürftig
  • Verursacht Leid beim Betroffenen und/oder dessen Umfeld: Unverbesserlichkeit und Schwierigkeit, eigene Fehler zu sehen, soziale Isolation

Persönlichkeitsstörungen können sich bereits in der frühen Kindheit bemerkbar machen, äußern sich aber in voller Ausprägung erst im späteren Jugendalter oder bei jungen Erwachsenen. Teilweise erfüllen z.B. 11-Jährige bereits alle entscheidenden Kriterien. Aufgrund des jungen Alters spricht man hierbei von einem „Verdacht auf sich entwickelnde Persönlichkeitsstörung“ oder „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“. Von einer Persönlichkeitsstörung kann erst gesprochen werden, wenn sich eine feste Persönlichkeit entwickelt hat.

Intervention bei Jugendlichen mit Borderline

  • Der wichtigste Schritt ist es die Störung zu erkennen und den betroffenen Jugendlichen mit diesem Wissen zu begegnen.
  • Jugendliche mit Borderline erfahren einen ständigen Wechsel von Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen und Präferenzen. Für alle Beteiligten ist es schwer diese sprunghaften Veränderungen nachzuvollziehen und darauf zu reagieren. Die Beziehungsgestaltung, die sich herausfordernd und intensiv gestaltet, ist nicht nur eine Rahmenbedingung oder Grundlage, sie stellt ein zentrales Element der pädagogischen Arbeit dar.
  • Primäre Intention ist es die wahre Person im Inneren des betroffenen Jugendlichen durch eine besonders sorgfältige Beziehungsgestaltung zu erreichen. Die pädagogische Grundhaltung, die ein wertschätzendes, authentisches, persönliches und kontinuierliche Beziehungsangebot voraussetzt, kann dazu führen, dass Jugendliche es nicht glauben oder aushalten können. Sie werden die Beziehung immer wieder testen und infrage stellen. Demzufolge stellt es die Bezugspersonen vor die Herausforderung einerseits eine ernsthafte Beziehung anzubieten und andererseits, sie vor einer emotional überfordernden Beziehungserfahrung zu schützen. Für den Pädagogen bedeutet das in der Beziehungsgestaltung eine „professionelle“ Rolle einzunehmen, der mit den störungsspezifischen Kommunikations- und Interaktionsmustern pädagogisch-therapeutisch umzugehen weiß und sein Handeln nicht durch persönliche Betroffenheiten leiten lässt. Um den Jugendlichen zu erreichen, wird die Notwendigkeit entstehen, seine professionelle Rolle zu verlassen und sich persönlich einzubringen. In diesem Interaktionsmuster wird der Pädagoge die Balance, zwischen Rolle und Person, Nähe und Distanz immer wieder neu finden und halten müssen.
  • Die verschiedenen Ausprägungsformen stellen die Bezugspersonen vor große Herausforderungen. Interventionen mit Ermahnungen, Regulationen, Strafen und Disziplinierungen führen tendenziell zu einem Teufelskreis, in dem sich die jungen Menschen ungerecht behandelt und als nicht gesehen erleben. Dies verstärkt mitunter die Symptomatik und lässt eine Dynamik entstehen, die professionelle als auch private Bezugspersonen an ihre Grenzen bringt und es zu Beziehungsabbrüchen kommt.
  • Die Jugendlichen sollen in diesem Prozess ihre Selbstkontrollfähigkeit stärken, indem sie mit den Folgen ihres Verhaltens konfrontiert werden. Der Pädagoge darf sich nicht zum Teil des Systems eines Jugendlichen machen, sondern sollte einen unabhängige Außenposition vertreten. Bedingt durch Fehlwahrnehmungen verteufeln oder überidealisieren sie ihre (früheren) Bezugspersonen, so dass in der Auseinandersetzung ein stark polarisierendes Denken entzerrt werden kann.
  • Die Tendenz, dass die betroffenen Jugendlichen ihre professionellen Helfer intensiv vereinnahmen wollen, führt zu dem beschrieben Dilemma zwischen Nähe und Distanz. Unrealistische Forderungen der Jugendlichen müssen immer wieder aufs Neue bearbeitet und geklärt werden, ohne die weitere Beziehung zu dem Jugendlichen in Frage zu stellen. Die Reaktionen auf diese wahrgenommenen Ablehnungen der Bezugspersonen können bei den Jugendlichen zu heftigen Krisen und selbstverletzenden Verhalten führen. In diesen Kontexten sind transparente und zuvor vereinbarte Rahmenbedingungen hilfreich, auch wenn sie die Reaktionen des Jugendlichen nicht verhindern können. Eine wichtige Perspektive, die in diesen Dynamiken unterstützt, der Jugendliche bleibt für sein Verhalten selbstverantwortlich. Das bedeutet, dass sie sich nicht ritzen, weil der Pädagoge etwas nicht getan hat, sondern weil sie es entschieden haben auf diese Weise mit dem Verhalten des Gegenübers umzugehen. Diese Verhaltensweisen sind als Symptome zu verstehen und dürfen nicht zu viel Raum und Aufmerksamkeit einnehmen. Ein wichtiger Schritt sind die Entwicklungen von alternativ geeigneteren Methoden des Spannungsabbaus. Die alten Verhaltensweisen werden immer wieder auftauchen, bis neue Muster gefunden und etabliert sind.
  • Die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe, Psychiatrie und gegebenenfalls der Polizei ist wesentlich. Sie sind wichtige und entscheidende Partner in akuten Krisen. Die angedrohte oder die durchgeführte Suizidalität und das selbstschädigende Verhalten muss immer ernst genommen werden. Liegt die Vermutung des Manipulationsversuchs nahe, kann nicht ausgeschlossen werden, dass aus einer echten Verzweiflung gehandelt wird. Zudem kann ein demonstrativer Suizidversuch, der keine Todesabsichten hatte, auch versehentlich zum Tod führen.
  • Die Aufklärung der Eltern ist einer der wichtigsten Bestandteile der Elternarbeit. Ohne die Dynamiken einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu erkennen und Faktenwissen über die Störung zu erhalten, können die Eltern sich nicht hilfreich und unterstützend verhalten. Die Verhaltensweisen können daraufhin zielen, dass Eltern und Pädagogen gegeneinander ausgespielt und manipuliert werden. Eine Behandlung dauert in der Regel Jahre und die Jugendlichen werden manche Eigenschaften ihr Leben lang beibehalten. Besonders an diesem Punkt benötigen die Eltern viele Hilfestellungen, um bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen zu akzeptieren. Für viele Eltern ist es ein großer Schock, dass ihr Kind eventuell jahrelange stationäre Maßnahmen der Jugendhilfe oder psychiatrische Behandlungen benötigen wird. Das Eltern in dieser Beziehungsgestaltung meist überfordert sind und an ihre Grenzen kommen ist nachvollziehbar. Ein gezieltes Elterncoaching, um bestimmte Fähigkeiten einzuüben, kann sinnvoll sein, um ihrem Kind zu helfen. Eltern müssen darüber hinaus informiert werden, dass es zu eventuellen Abbruchstendenzen ihrer Kinder kommen kann und dabei vehemente Anklagen und Drohungen an sie getragen werden. Hinsichtlich dieser Dynamik ist eine enge, gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit der Eltern mit dem pädagogischen und therapeutischen Team erfolgsentscheidend.

Literatur
Baierl, M. (2017). Herausforderung Alltag, Praxishandbuch für die pädagogische Arbeit mit psychisch gestörten Jugendlichen. Vandenhoeck & Ruprecht.

Internetquellen:
https://www.icd-code.de/icd/code/F63.-.html [15.10.2020]

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wsd/verhalten/themen/themenfeld5/d17.txt · Zuletzt geändert: 2023/01/30 13:00 von Romina Rauner