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wsd:verhalten:themen:themenfeld5:d07

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Störungen des Sozialverhaltens F91

Zitiervorschlag: Urtimur, V. (2020). Störungen des Sozialverhaltens. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d07, CC BY-SA 4.0

ICD 10
bzw. 11

  • F91 Störungen des Sozialverhaltens: Störungen des Sozialverhaltens sind durch ein sich wiederholendes und anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert. Das anhaltende Verhaltensmuster muss mindestens sechs Monate oder länger bestanden haben. Störungen des Sozialverhaltens können auch bei anderen psychiatrischen Krankheiten auftreten.
    Beispiele für Verhaltensweisen, welche diese Diagnose begründen, umfassen ein extremes Maß an destruktivem Verhalten, Aggressionen, Wutausbrüche, Schule schwänzen oder Weglaufen von zu Hause, Diebstahl, Lügen, Erziehungsprobleme, Beziehungsabbrüche, Alkohol und Drogenmissbrauch und -abhängigkeit. Jedes dieser Beispiele ist bei erheblicher Ausprägung ausreichend für die Diagnose, nicht aber nur isolierte dissoziale Handlungen.
    Nach Lempp (2014) werden die Störungen des Sozialverhaltens als eine „zeitlich andauernde Unfähigkeit das eigene Verhalten innerhalb sozial definierter Regeln angemessen zu kontrollieren“ verstanden und die Diagnose wird nur bis zum Eintreten des 18. Lebensjahr diagnostiziert.
  • F91.0 Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens: Diese Verhaltensstörung ist vollständig oder fast völlig auf den häuslichen Rahmen, auf Interaktionen mit Mitgliedern der Kernfamilie oder der unmittelbaren Lebensgemeinschaft beschränkt. Um diese Diagnose zu stellen, ist das Sozial-verhalten gegenüber anderen Personen, die nicht dem familiären Rahmen zuzuordnen sind, ohne Auffälligkeiten.
  • F91.1: Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen: Diese Störung ist charakterisiert durch dissoziale und aggressive Verhaltensweisen, die die oben genannten allgemeinen Kriterien erfüllen, aber zusätzlich eine deutliche und tiefgreifende Einschränkung in der Beziehungsgestaltung zu anderen mit sich bringt. Den Kindern und Jugendlichen fehlt die Einbindung in eine Peergroup, so dass sie sich zurückziehen und durch Isolation auffallen. Entscheidend für diese Diagnose ist die Qualität der Bindungen und nicht die Häufigkeit der Auffälligkeiten.
  • F91.2: Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen: Kinder und Jugendliche, die unter dieser Diagnose leiden, sind gut in ihre gleichaltrigen Peergroups eingebunden, jedoch ist ihr Verhalten von aggressivem und dissozialen Mustern gekenn-zeichnet. Das Gruppenverhalten der Peergroup ist häufig ebenfalls delinquent oder dissozial veranlagt, so dass es zu gegenseitigen gruppendynamischen Verstärkungen kommt. Die Beziehungen zu Eltern, Lehrer:innen oder weiteren Bezugspersonen ist weiterhin problematisch veranlagt.

Statistik

  • 2-10% der Allgemeinbevölkerung – Tendenz steigend
  • Das Verhältnis Jungen zu Mädchen liegt bei 5:1
  • Störungen des Sozialverhaltens sind die häufigsten Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
  • 8% der Jungen und 3% der Mädchen sind im Alter zwischen 4 und 16 Jahren betroffen
  • Steigt in der Adoleszenz anteilig bei Jungen bis zu 16% an
  • Der Höhepunkt des Auftretens liegt ca. bei 17 Jahren

Ursachen und Risikofaktoren Die Auftretenswahrscheinlichkeit wächst mit der Anzahl der verschieden Risikofaktoren.

Umweltbezogene Risikofaktoren:

  • Psychisch erkrankte Elternteile
  • Wechsel der Bezugspersonen in den ersten Lebensjahren
  • Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch und Ver-nachlässigung
  • Harte und inkonsistente Bestrafungen in der Erziehung
  • Gewaltdarbietung in persönlichem Umfeld und durch mediale Darstellungen
  • Überforderungen im schulischen Kontexten
  • Dissoziale Peergroup im Jugendalter
  • Erziehungsschwache und sozial isolierte Familien
  • Die umweltbezogenen Faktoren werden bei Erklärungsansätzen als bedeutsamer eingestuft

Biologische Risikofaktoren:

  • Niedriger basaler Ruhepuls
  • Genetische Belastung
  • Hormonelle Faktoren
  • Reduzierte Serotonin-Aktivität im ZNS

Komorbidität
je nach Quelle

  • ADHS
  • Depressionen
  • Angst- und Zwangssymptome
  • Substanzmissbrauch
  • Bipolare Erkrankungen

Symptome Charakteristische Symptome:

  • Destruktives Verhalten
  • Aggressionen
  • Wutausbrüche
  • Schule schwänzen
  • Diebstahl
  • Lügen
  • Erziehungsprobleme der Beteiligten
  • Beziehungsabbrüche
  • Alkohol- und Drogenmissbrauch und -abhängigkeit
  • Spielsucht
  • Bei männlichen Jugendlichen überwiegen Eigentumsdelikte
  • Weibliche Jugendliche neigen eher zum Herumtreiben, haben oft wechselnde Sexualpartner und prostituieren sich häufiger

Prognose Beginn vor dem zehnten Lebensjahr:

  • Wesentlich mehr Jungen als Mädchen
  • Häufig körperliche Aggression
  • Häufig gestörte Peerbeziehungen

→ Höhere Wahrscheinlichkeit einer dissozialen Persönlichkeits-störung im Erwachsenenalter und damit eine ungünstigere Prognose

Beginn nach dem zehnten Lebensjahr:

  • Erneut mehr Jungen als Mädchen, aber Mädchen zeigen jedoch zu Beginn der Adoleszenz oft ähnlich problematische Verläufe wie Jungen vor dem zehnten Lebensjahr
  • Seltener aggressives Verhalten
  • Bessere Beziehungen zu Gleichaltrigen
  • Häufig nimmt die Problematik während der Pubertät zu, es gibt einen deutlichen Rückgang im jungen Erwachsenenalter (ab dem 21. Lebensjahr)

→ Geringere Wahrscheinlichkeit einer dissozialen Persönlichkeits-störung im Erwachsenenalter und damit eine günstigere Prognose

Intervention allgemein Abhängigkeit von sozialen Normen:
Die Grenzen zwischen leichten und schweren Formen sind schwer zu unterscheiden, weil sie u.a. von den Normen und Regeln des jeweiligen Umfeldes abhängig sind. Verschiedene Ausgangsfaktoren können unterschiedliche Bewertungen z.B. zwischen Stadt- und Landbewohner, verschiedenen Familien und Kulturen zur Folge haben.

Transparenz anstreben:
Entscheidungen, welche die Selbstständigkeit im wachsenden Alter unterstützen stellen einen Entwicklungsprozess zur Selbstbestimmung dar. Um Kinder und Jugendliche in ihren individuellen Entwicklungen zu unterstützen, bedarf es, besonders auch bei herausfordernden Verhaltensweisen, sein eigenes pädagogisches Handeln zu reflektieren und in entwicklungsadäquater Weise dem Kind offen darzulegen und zu begründen. Fühlen sich die Kinder dabei ernst genommen und nicht willkürlichen Konsequenzen ausgesetzt zeigen sie generell ein höheres Maß an Einsicht und verhalten sich kooperativer. Falls sich das Kind dabei ungerecht behandelt fühlt, ist es wesentlich in den Dialog mit ihm zu treten, um dasselbe Ziel auf einem anderen Weg zu erreichen, indem gemeinsame konstruktive Alternativen erörtert werden.

Reversibilität anstreben:
Zwischen Erwachsenen und Kindern sowie Jugendlichen geht es um die prinzipielle Gleichheit in der Einhaltung von ver-einbarten Regeln und getroffen Absprachen, dies beinhaltet aber auch Regeln, die auf Grund des Alters des Aufwachsenden anders lauten können als für die Erwachsenen. Die Reversibilität des Verhaltens von Eltern und Erziehern schließt die gleichrangige Wertschätzung der Aktivitäten von Erwachsenen und Kindern sowie Jugendlichen mit ein.

Eigene Forderungen hinterfragen:
Das Reflektieren des erstellten Regelwerks einer Institution oder eines Elternhauses kann hinsichtlich verschiedenster Frage-stellungen sinnvoll sein. Gibt es z.B. zu harte, zu ungenaue, zu widersprüchliche Regeln? Wichtig ist in diesem Zusammen-hang, dass der individuelle Entwicklungsstand, Verhaltens-besonderheiten und -auffälligkeiten berücksichtigt werden. Sind die Regeln klar und eindeutig formuliert? Wurden diese prägnant und eindeutig kommuniziert? Haben die Kinder und Jugendlichen den Sinn und Zweck des Regelwerkes verstanden? Werden diese von allen Beteiligten gleichermaßen bejaht, vertreten und durchgesetzt?

Frühzeitiges Handeln:
Eine überdauernde und früh einsetzende Störung des Sozial-verhaltens ist als ein schwerwiegendes Problem zu verstehen, das eine relativ ungünstige Prognose aufweist bzw. in ihrem Verlauf chronisch werden kann. Antisoziales Verhalten hat einen verstärkenden Effekt auf die Bezugspersonen, aber auch auf Personen, die nicht zum unmittelbaren Nahbereich zuzuordnen sind. Dies hat zur Folge, dass dieses Störungsbild schleichend beginnt und sich frühzeitig in der Entwicklung des Kindes durch unterschiedliche Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Ein frühzeitiges Reagieren auf dieses Verhalten ist zentral, auch wenn es nicht zwangsläufig auf eine dissoziale Entwicklung verweisen sollte.

Akzeptanz/Verstehen der individuellen Schwierigkeiten:

  • Wenn altersgemäße Anforderungen an Heranwachsende nicht bewältigt werden, ist es für diese Kinder und Jugendliche wesentlich, dass sie trotz der unvermeidlichen Kritik spüren, dass Sie als Personen geschätzt und anerkannt werden. Sie müssen das Gefühl haben, dass sie von ihren primären Bezugspersonen verstanden und angenommen werden. Dies stellt eine tragfähige Basis für die weitere Beziehung dar und ist durch ein ständiges Ringen und Bemühen aller Beteiligten gekennzeichnet.
  • Der Begriff des Verstehens ist dabei nicht mit dem Begriff des Erklärens gleichzusetzen. Erklärungen, die uns Gründe für Auffälligkeiten liefern, sind verhältnismäßig schnell gefunden. Solche Erklärungen sind auf die jeweiligen Kontexte zutreffend. Sie helfen dem Erziehenden nur bedingt, eine Lösung zu finden, da sie monokausal, ein bestimmtes Verhalten auf eine bestimmte Ursache zu beziehen versuchen. Auch multikausale bzw. multifaktorielle Erklärungsmodelle lösen die Probleme allein nicht, da sie in diesem linearen Denkmuster bleiben. Ein wichtiger Grundgedanke des Verstehens ist, dass Kinder und Jugendliche aus sich selbst heraus sinn- und nicht ursachengesteuert handeln.

Das Verstehen an sich erklärt also nicht das Verhalten auf der Suche nach irgendwelchen Gründen, sondern sucht die Sinnzusammenhänge und klärt die entscheidenden Fragen, wie, wo und warum ein störendes Verhalten einen lebenswichtigen Sinn für genau dieses Individuum darstellt. Verstehen meint hier also, dass Hypothesen im Kontext der individuellen Sinnzusammenhänge zu denken sind.

Blick auf das Kind in seinem sozialen Umfeld:
Ein entscheidender Blick, um die Lebenskontexte des Kindes zu verstehen, ist seine gesamte Lebenswelt zu betrachten. Durch die Kind-Umfeld-Analyse können die individuellen Ressourcen und Schwächen, die innerfamiliären Beziehungen und Verhaltensmuster mit ihren Außenkontakten, sowie ihre finanziellen und personellen Möglichkeiten, als auch die weitere Verwandtschaft und der Bekanntenkreis berücksichtigt werden. Darüber hinaus ist die Schule, die mit ihren leistungsmäßigen und sozialen Anforderungen, sowie die bedeutsamen Gleichaltrigengruppen und sonstige wichtige Einflussfaktoren miteinzubeziehen.

Einschätzung der Belastungsfaktoren:

  • Aufgrund der Multidimensionalität der Störung müssen die Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen auf verschiedenen Ebenen und an unterschiedlichen Punkten ansetzen. Daher bedarf es einer genauen Analyse der Gesamtsituation, so dass zunächst die Fragestellungen nach besonderen Belastungen und Risikofaktoren im jeweiligen Einzelfall berücksichtigt werden.
  • Die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen ist dabei immer aufmerksam zu beobachten, damit frühzeitig weitere fachliche Hilfen zur Unterstützung in Anspruch genommen werden können. Ein essenzieller Bestandteil dieses Prozesses ist es, dass sich alle Beteiligten zusammensetzen, um ein von allen getragenes Betreuungs- und Behandlungsvorgehen zu entwickeln.

Therapeutische Hilfemaßnahmen:
Vier Interventionsebenen:

Kindebene:

  • Kognitive Verhaltenstherapie, die meist sowohl als Einzel- als auch als Gruppentherapie/-training durchgeführt wird.
  • Verhaltensanalyse
  • Problemlösetraining
  • Ärger-Kontrolltraining – Selbstinstruktionen
  • Soziales Kompetenztraining
  • Medikamentöse Behandlung
  • Behandlung komorbider Störungen

Elternebene (Familientherapie):

  • Herausarbeiten positiver Eigenschaften des Kindes
  • Klare Grenzen setzen und wirkungsvoll Anweisungen geben
  • Familienregeln eindeutig formulieren (z.B. Familienrat)
  • Richtige Anwendung von Verstärkersystemen, z.B. Tokensysteme und Auszeitregelungen

Lehrer:innenebene:

  • Informationsaustausch mit den Lehrer:innen über die Ziele und Inhalte der therapeutischen Behandlung
  • Mithilfe der Lehrer:innen durch Unterrichtsbeobachtungen
  • Operante Verstärkungen und Regelsetzung (z.B. in Form von Verstärker- und Belohnungssystemen, etc.)
  • Die Einbeziehung von Schulsozialarbeiter:innen, Schulbegleitungen und weiterem Fachpersonal

Sonstige begleitende Maßnahmen:

  • Suchtberatung
  • Jugendhilfemaßnahmen
  • Familienhilfe, Erziehungsbeistand
  • Teilstationäre Maßnahmen
  • Vollstationäre Maßnahmen

Literatur

Arolt, Reimer, Dilling (2011). Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Berlin, Heidelberg: Springer.

Baumann, M. (2009). Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen. Hamburg: tredition GmbH.

Trapmann, H.; Rotthaus, W. (2018). Auffälliges Verhalten im Kindesalter, Handbuch für Eltern und Erzieher Band 1. verlag modernes lernen.

Trapmann, H.; Rotthaus, W. (2013). Auffälliges Verhalten im Jugendalter, Handbuch für Eltern und Erzieher Band 2. verlag modernes lernen.

Höwler, E. (2016). Kinder- und Jugendpsychiatrie für Gesundheitsberufe, Erzieher und Pädagogen. Berlin, Heidelberg: Springer.

Lempp, T. (2014). Kinder- und Jugendpsychiatrie. BASICS. München: Urban und Fischer.

Seidel, J. (2015). Störungen des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter. Die Multisystemische Therapie. Masterarbeit.

Internetquellen:

https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2016/block-f90-f98.htm#F91 [22.02.2020]

Wachs, S. Störung des Sozialverhaltens ICD-10 (F 91), unter https://www.uniklinikum-saarland.de/fileadmin/UKS/Einrichtungen/Kliniken_und_Institute/Neurologie_und_Psychiatrie/Kinder_und_Jugendpsychiatrie/Folien_Vorlesung/Folien_2015_neu_01/SSV_Wachs_ppt_neu.pdf [12.03.2020]

Entwicklung von Risikokindern im Schulalter: Die langfristigen Folgen frühkindlicher Belastungen (Laucht, Esser, Schmidt 2000), in Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie (2000), 32, pp. 59-69.), unter https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1026//0049-8637.32.2.59 [14.03.2020]

Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Medizin der Medizinischen Fakultät der UNIVERSITÄT DES SAARLANDES 2011 vorgelegt von: Christina Brigitte Sheikhian geb. Meyer, unter https://d-nb.info/105233914X/34 [18.03.2020]

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wsd/verhalten/themen/themenfeld5/d07.txt · Zuletzt geändert: 2023/01/30 13:02 von Romina Rauner