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wsd:verhalten:themen:themenfeld5:d05

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Essstörungen F50

Zitiervorschlag: Rieß, A. (2020). „Essstörungen“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d05, CC BY-SA 4.0

ICD 10
bzw. 11

  • F 50.1 Anorexia nervosa: Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika.
  • F 50.2 Bulimia nervosa: Ein Syndrom, das durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert ist. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und Erbrechen oder Gebrauch von Abführmitteln.
  • F 50.9 Binge – Eating (DSM IV): Wiederholte Episoden von „Fressattacken“ ohne die für die Bulimia Nervosa charakteristischen regelmäßigen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen.

Statistik Essstörungen Allgemein:

  • Über 5 Millionen Menschen haben in Deutschland Essstörungen
  • Essstörungen können in jedem Alter auftreten
  • Beginn in der Pubertät oder frühen Erwachsenenalter
  • Bei Mädchen meist zwischen 15 und 22 Jahren
  • Bei Jungen zwischen 18 und 26 Jahren
  • 90% der betroffenen sind weiblich
  • Ca. 7% der Schüler:innen haben eine Essstörung
  • 1/3 der Jugendlichen haben Übergewicht
  • 6% der Jungen und 8% der Mädchen sind adipös
  • 8% der Jugendlichen haben Untergewicht
  • 2/3 aller Jugendlichen wären gerne schlanker
  • Die Hälfte der unter 15-jährigen Mädchen hält sich trotz Normalgewicht für zu dick
  • 25% der weiblichen Jugendlichen haben bereits eine Diät versucht
  • 7% der männlichen Jugendlichen haben bereits eine Diät versucht
  • 95% der Diäten waren erfolglos

Anorexia nervosa/ Magersucht F 50.0

  • 90% der Betroffenen sind weiblich
  • Beginnt zu 90% vor dem 20. Lebensjahr, oft mit 14 Jahren
  • Inzidenz der weiblichen 15- bis 25-jährigen pro Jahr: 0,06%
  • 1% der Frauen entwickelt in der Gesamtlebensspanne eine Anorexie
  • Risikogruppe (Models, Tänzer, Schauspieler etc.)
  • Erkranken bis zu achtmal so häufig
  • Anorexie ist eine der häufigsten Todesursachen von Mädchen zwischen 15 und 25 Jahren
  • Je früher eine Behandlung einsetzt, desto geringer das Sterberisiko
  • Die Hälfte der Betroffenen wird durch die Therapie dauerhaft geheilt
  • Bei einem Drittel verläuft die Anorexie chronisch

Bulimia nervosa F50.2

  • 95% der Betroffenen sind weiblich
  • ¾ erkranken vor dem 22. Lebensjahr
  • 1 bis 2% aller Jugendlichen sind betroffen
  • Therapiebeginn im Schnitt fünf Jahre nach Ersterkrankung
  • Nach Therapie haben 50% keine Essanfälle mehr
  • 20% zeigen nach der Therapie leichte Verbesserungen

Binge – Eating DSM-IV

  • Keine verlässlichen Zahlen bekannt

Ursachen und Risikofaktoren

Über die letztendlichen Ursachen der jeweiligen Essstörung wird spekuliert. Die Aufstellung gibt an, welche Risikofaktoren aktuell angenommen werden.

Biografische Entwicklung

  • Zugehörigkeit zur Mittelschicht oder Oberschicht
  • Opfer sexuellen Missbrauchs
  • Strenges und häufiges Diäthalten
  • Stressauslösende Situationen z.B. Trennung der Eltern

Familiendynamik

  • Familie mit hohem Harmonieanspruch
  • Familienklima, das wenig Raum für Individualität lässt
  • Besonders starke Eltern – Kind – Beziehungen
  • Wenige Gefühlsäußerungen im Familiensystem
  • Wenig Offenheit bezüglich Konflikten im Familiensystem
  • Beziehungsprobleme der Eltern
  • Uneinheitliche erzieherische Schwerpunktsetzung der Eltern
  • Hoher Leistungsdruck der Eltern an Kinder
  • Rigides Erziehungsverhalten der Eltern
  • Übergewichtige Eltern
  • Familie, indem Schlankheit und Schönheit besonders wichtig sind
  • Strenge und häufige Diäthaltung der Eltern

Selbst

  • Überschlankes Schönheitsideal
  • Mangelndes Selbstwertgefühl / Gefühl der Unzulänglichkeit
  • (Negative) Perfektionistische Grundeinstellung
  • Hohes Kontrollbedürfnis
  • Unsicherheit über Zugehörigkeit
  • Starkes Bedürfnis nach Anerkennung
  • Unbehagen gegenüber Sexualität
  • Unsicherer Umgang mit Gefühlen
  • Besonders hohe oder besonders niedrige Sensibilität
  • Zwanghaftigkeit / Kontrollbedürfnis

Individuelle Vorrausetzung

  • Weibliches Geschlecht
  • Mangelnde Bewältigungsstrategien für Probleme und Belastungen
  • Frühe Beschäftigung mit dem Thema Sexualität
  • Überdurchschnittliche Intelligenz
  • Genetische Disposition

Gesundheit

  • Psychische Störung, vor allem Depression, Angst, Sucht
  • Frühes Einsetzen der ersten Monatsblutung

Peerbeziehung

  • Freundeskreis, in dem Schlankheit und Schönheit besonders wichtig sind

Komorbidität (je nach Quelle)

  • Häufig entwickeln Jugendliche mit Essstörungen auch Depression, Angst- und/oder Zwangsstörungen
  • Risiko auf chronische Müdigkeit, Schlafstörungen, chronische Schmerzen, Verhaltensstörungen oder Persönlichkeitsstörungen ist 3 bis 4mal so hoch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
  • Suizidrisiko 5 Mal so hoch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
  • Suchtrisiko 4 bis 5 Mal so hoch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
  • 25% der betroffenen Jugendlichen greifen zum selbstverletzendem Verhalten

Symptome Folgende Symptome werden beschrieben: Anorexie

  • Körpergewicht unter 85% des alterstypischen Gewichts
  • Gewichtsabnahme ist gewollt und selbst herbeigeführt
  • Absichtliches Halten des Gewichts trotz Wachstum
  • Selbstwahrnehmung als zu dick
  • Angst davor, zuzunehmen
  • Beständiges Diäthalten
  • Beständige Beschäftigung mit dem Thema Essen
  • Horten von Nahrungsmitteln
  • Mehrmals tägliches Wiegen
  • Exzessives Sporttreiben
  • Überarbeitung
  • Starkes Leistungsstreben
  • Hoher Ordnungssinn
  • Hohes Pflichtgefühl
  • Ausbleiben der Menstruation
  • Unfruchtbarkeit
  • Verlust sexueller Erregbarkeit
  • Alle Symptome von Unterernährung
  • Eigenes Essverhalten wird als normal oder zu viel erlebt
  • Keine Krankheitseinsicht

Bulimie

  • Wiederkehrende Essattacken, Verschlingen enormer Mengen wie unter Zwang
  • Absichtliches Erbrechen
  • Missbrauch von Substanzen wie Rohrreiniger zur Gewichtsreduktion
  • Diäthalten
  • Schuld- und Versagensgefühle
  • Permanente Beschäftigung mit dem Thema Essen
  • Menstruationsstörung
  • Unfruchtbarkeit
  • Selbstwahrnehmung als zu dick
  • Gestörte Impulskontrolle
  • Schwanken zwischen Über- und Unterkontrolle
  • Stehlen von Lebensmittel
  • Verschuldung
  • Eher normal- bis übergewichtig als unterernährt
  • Symptome von Über- bzw. Unterernährung

Binge–Eating

  • Essanfälle wie Bulimie
  • Kein absichtliches Erbrechen oder Ähnliches
  • Betroffene wissen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt
  • Betroffene meist übergewichtig
  • Schuld und- Versagensgefühle

Intervention allgemein Allgemeine Hinweise:

  • Unterstützung der Jugendlichen bedarf 1 bis 6 Jahren, bis das Essverhalten wieder dauerhalt normalisiert.
  • Meist wird eine Kombination aus Psychotherapie, Ernährungsberatung, medizinischer Hilfe, Selbsthilfegruppe und pädagogische Maßnahmen vereinbart.
  • Pädagogische Maßnahmen können erst nach Störungseinsicht meist nach der erfolgreichen Psychotherapie greifen.

Beziehung und Wertschätzung:

  • Beständig den Jugendlichen Sicherheit und Wertschätzung vermitteln
  • Auch in Krisenzeiten Beziehung aufrechterhalten

Modell sein:

  • Modell sein bzgl. Essverhalten und Alltagsbewältigung, bevor Gespräche möglich werden
  • Offen und glaubwürdig zeigen und reden, dass man selbst nicht perfekt ist und Unterstützung benötigt
  • Beharrlich bleiben auch wenn Aufgaben nicht auf Anhieb gelingen wollen
  • Über sich reden und nicht über das, was allgemein angenommen wird

Gesprächsbereitschaft und Gesprächsführung:

  • Gespräch initiativ suchen, wenn man den Verdacht auf eine Essstörung hat
    • Der Verdacht sollte aus Mehrfachperspektive abgesichert sein
  • Gegenseitige Schulzuweisung vermeiden und Ärger und Ablehnung des Jugendlichen aushalten
    • Nicht das Thema alleine auf Aussehen und Körpergewicht reduzieren
  • Vermitteln von Verständnis
  • Sorge, Ängste und Befürchtungen ausdrücken
  • Gut Zuhören
  • Gut informiert über das Thema Essstörungen sein
    • Faktenwissen, zugrundeliegende Mechanismen, Infos zu Hilfsangebote, Gesundheitliche Auswirkung von Unter, bzw. Mangelernährung
  • Essstörungen nicht dramatisieren und bagatellisieren
  • Gesprächsabbruch akzeptieren und in einer neuen Situation wieder aufgreifen

Beratungsstellen

  • Ermutigen, sich unverbindlich zu informieren
  • Gerne auch zur Beratungsstelle begleiten
  • Faktenwissen zu Essstörungen, zugrundeliegende Mechanismen, Bewältigungsmöglichkeiten, Ernährungsberatung und Informationen zu Hilfsangebote.
  • Selbsthilfegruppe
  • Schuld- und Schamgefühlen kann in Gemeinschaftserlebnis oft besser begegnet werden
  • Je früher zu diesem Schritt motiviert werden kann, desto geringer sind die zu erwartenden Komplikationen

Unterricht

  • Eskalation durch beharren auf Standpunkte vermeiden
  • Permanente Spannung zwischen Autonomie und Kontrollbedürfnis der Jugendlichen und den notwendigen Grenzen reflektieren und die eigene

Motivation hinterfragen

  • Metagespräch über Eskalation führen
  • Klare Strukturen setzen
    • Weniger Konflikte
  • Lebensfreude zeigen und erlebbar machen
  • Philosophische, religiöse und spirituelle Aspekte in den Unterricht einfließen lassen
  • Integration in soziale Gruppen ermöglichen und fördern
  • Gemeinsam Mahlzeiten ermöglichen und positiv gestalten (moralischer Zeigefinger vermeiden)
  • Themen zur Identifikation gestalten („Wer bin Ich?“)
  • Gefühle thematisieren und in einem positiven Kontext erlebbar machen
  • Bewegung und Sport
  • Elternarbeit

Psychotherapie

  • Kognitive Verhaltenstherapie
  • Systemische bzw. familientherapeutische Ansätze

Literatur

Baierl, M. (2017). Herausforderung Alltag – Praxishandbuch für pädagogische Arbeit mit psychisch gestörte Jugendlichen. Vandenhoek & Ruprecht.

Beerbom, C.; Netzwerk Schule und Krankheit Universität Potsdam; Bundesverband Aphasie e. V. (Aphasie) (2010). Handreichung Schülerinnen und Schüler mit chronischen Erkrankungen. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM).

Kizilhan, J. I. (Hrsg.) (2016). Handbuch psychischer Erkrankungen für soziale Berufe; Lehrbuch für Studium und Praxis. VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung.

Kizilhan, J. I. (Hrsg.) (2019). Psychische Störungen. Lehrbuch für soziale Arbeit. Papst sience publisher. 3. Auflage.

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