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wsd:kommunikation:taktile_gebaerden

Entwicklung Taktiler Gebärden(sprache) im Kontext angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung

Zitiervorschlag: Marx, M. & Wanka, A. (2022). „Entwicklung Taktiler Gebärden(sprache) im Kontext angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung.“ Abgerufen von URL:https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:kommunikation:taktile_gebaerden, CC BY-SA 4.0

Auswirkungen einer Taubblindheit/Hörsehbehinderung

Liegt eine angeborene Taubblindheit/Hörsehbehinderung (Tb/Hs) vor, bedeutet dies, dass die Tb/Hs von Geburt an oder vor dem Spracherwerb auftritt (vgl. Andersen & Rødbroe 2003, Rødbroe & Janssen 2014, Wanka 2016). Je nach Einschränkung der Fernsinnesbehinderungen weist eine Person eine Taubblindheit, eine Blindheit mit Resthörvermögen, eine Gehörlosigkeit mit Reststehvermögen oder Resthör- und Restsehvermögen auf.

Die Voraussetzungen für die Entwicklung unterscheiden für alle Formen der Tb/Hs im Vergleich zu einem sehenden und/oder hörenden Menschen. Kinder mit angeborener Tb/Hs erwerben ihre Fähigkeiten ohne oder mit eingeschränkten primären Fernsinnen. Vorhandene Sinne, wie der taktile, olphaktorische oder gustatorische Sinn, werden genutzt, um Informationen aus der Umwelt zu erhalten. Die Erkundung der Umwelt, der Aufbau von sozialen Beziehungen, Kommunikation und Interaktion sowie der Erwerb von Sprache erfolgen nicht oder weniger durch die Fernsinne, sondern auf taktil-körperliche Weise (vgl. Rødbroe & Janssen2014). Das Wahrnehmen der Welt durch den taktilen Sinn ist die Grundlage auf der die Entwicklung eines Kindes mit Tb/Hs aufbaut. Inzwischen ist bekannt, dass die Art und Weise der Entwicklung und des Lernens sich nicht grundsätzlich von Kindern ohne Behinderung unterscheidet (vgl. Souriau 2002). Den Unterschied stellen vielmehr Lern- und Entwicklungsbedingungen dar (vgl. Rødbroe & Janssen 2014, Vonen & Nafstad1999).

Oftmals wird das Potenzial, das ein Mensch mit angeborener Tb/Hs mit sich bringt, nicht erkannt oder unterschätzt (vgl. Andersen & Rødbroe 2003). Dies liegt daran, „dass Taubblindheit oft eine unerkannte und missverstandene Behinderung ist. Das Risiko, das Verhalten und die Äußerungen von Kindern und Erwachsenen mit Taubblindheit falsch zu interpretieren, ist sehr hoch“ (Rødbroe & Janssen 2014). Da Menschen mit angeborener Tb/Hs ihr Umwelt auf andere Art und Weise als ein hörender und/oder sehender Menschen erkunden und sich ebenfalls auf andere Art und Weise ausdrücken, ist es möglich, dass die für eine:n hörenden und/oder sehenden Partner:in ungewohnten Äußerungen als „bedeutungslos und abartig“ (Rødbroe & Janssen 2014) angesehen werden. Die Interaktion mit einem Menschen mit angeborener Tb/Hs benötigt viele Pausen. Der Mensch mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung erhält so die Möglichkeit, einwirkende Informationen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Darüber hinaus wird ihm oder ihr auf diese Weise Zeit zur Erholung von diesen kognitiv fordernden Aufgaben gegeben.

Das Hineindenken in die Welt eines Menschen mit angeborener Tb/Hs ist eine bedeutsame Herausforderung.(vgl. Rødbroe & Janssen 2014). Herausfordernd ist diese Aufgabe vor allem deshalb, weil die Wahrnehmung eines Menschen mit angeborener Tb/Hs überwiegend auf taktilen Sinneseindrücken beruht, die für sehende und/oder hörende Menschen in vielen Fällen schwierig nachvollziehbar sind. Die Wahrnehmung der Welt wiederum wirkt sich auf die Ausbildung mentaler Vorstellungen und dadurch auf die Interaktion und Kommunikation aus.


Geteilte Erfahrungen und die Entstehung von körperlich-emotionalen Spuren (BETs)

Um Kommunikation und Sprache zu erwerben, sind geteilte Erfahrungen zwischen dem Kind und einem anderen Menschen unerlässlich (vgl. Souriau et al 2014). Dies gilt auch für ein Kind mit Tb/Hs. In geteilten Erlebnissen werden wesentliche Erfahrungen und Eindrücke gesammelt, die oft von Emotionalität geprägt sind (vgl. Souriau et al 2014). Letztere trägt dazu bei, einen tiefen, bedeutsamen Eindruck eines Erlebnisses zu erschaffen. Dieser Eindruck wird als signifikante Spur bezeichnet. Aus dieser signifikanten Spur kann eine Äußerung entstehen.

Im Kontext einer Tb/Hs handelt es sich bei dieser signifikanten Spur um eine körperlich-emotionale-Spur (BET – Body-Emotional-Trace oder Bodily-Emotional-Trace) (vgl. Daelman et al 2004, Näslund & Kastrup Pedersen 2019, Souriau et al 2014). Ein BET ist in vielen Fällen der Ausgangspunkt für eine Äußerung. Hinterlässt ein prägnantes Erlebnis eine körperlich-emotionale Spur, kann eine Äußerung des Menschen mit Tb/Hs auf dieser Spur beruhen. Typischerweise tritt eine Äußerung im Kontext einer angeborenen Tb/Hs in Form einer Berührung oder Bezugnahme zu dem Körperteil, an dem das Ereignis gespürt wurde oder durch eine Imitation einer bestimmten Bewegung, die bei dem Ereignis durchgeführt wurde, auf (vgl. Souriau et al 2014). Es kann sich aber auch um eine Gebärde, einen Laut o. Ä. handeln.

Es liegt in der Verantwortung der jeweiligen Partner:innen Situationen zu erschaffen, in welchen der Mensch mit Tb/Hs ein solch prägnantes Ereignis, welches ein BET hinterlässt, erlebt und mit der:dem Partner:in teilt. In vielen Fällen kann die:der Partner:in eine sich auf ein BET beziehende Äußerung nur erkennen und richtig deuten, wenn er/sie das Ereignis und das Entstehen des BETs miterlebt hat.


Verhandlung von Bedeutung

Die Grundlage für eine Äußerung ist eine mentale Vorstellung. Mentale Vorstellungen von Menschen mit angeborener Tb/Hs beruhen überwiegend auf den von ihnen gesammelten taktil-körperlichen Eindrücken. Dadurch unterscheiden sie sich grundlegend von den mentalen Vorstellungen ihrer hörenden und/oder sehenden Partner:innen. Für die:den Partner:in sind die Äußerungen der Mensch mit Tb/Hs aus diesem Grund oft schwierig zu deuten und zu verstehen. Dies bezeichnet man als geringe Lesbarkeit eines Menschen mit angeborener Tb/Hs (vgl. Nafstad & Rødbroe 2018, Wanka 2018).

Das Ziel jeglicher Kommunikation ist eine geteilte Bedeutung. Dieses Ziel ist durch die oben beschriebenen Bedingungen größeren Herausforderungen gegenübergestellt als in der Kommunikation zwischen zwei hörenden und/oder sehenden Menschen. Um eine geteilte Bedeutung zu erhalten, muss die:der Partner:in für mögliche Interpretationen offen sein und in die Verhandlung über die Bedeutung treten. Das Verhandeln nimmt eine wesentliche Rolle im Prozess der geteilten Bedeutung ein. Im Idealfall wird einer Äußerung durch diesen Schritt eine gemeinsame Bedeutung zugewiesen. So entstehen verhandelte, selbst kreierte Gebärden, die sich durch Wiederholung festigen (vgl. Daelman et al 2004). Mit der Zeit kann auf diese Weise ein Vokabular an Zeichen entwickelt werden, das für den Menschen mit Tb/Hs und ihre:seine Partner:in dieselbe Bedeutung tragen. Gemeinsam geteilte Erlebnisse können das Ziel einer geteilten Bedeutung unterstützen.


Übergang zu konventionellen Taktilen Gebärden

Der Übergang von (verhandelten) Gesten, Bewegungen und anderen Äußerungen zu einer taktilen konventionellen Gebärde ist herausfordernd. Diese Herausforderung besteht vor allem in der fehlenden natürlichen Übermittelung von taktilen Gebärden. Taktile Gebärden werden nicht auf natürliche Weise, im Sinne einer natürlichen, von Generation von Generation zu Generation weitergebenen Sprache, erworben (vgl. Souriau 2014b, Vonen 2012). Ein systematisch instruierter Erwerb von konventionellen Gebärden ist jedoch nicht zielführend. Damit Kinder mit Tb/Hs taktile Gebärden möglichst natürlich erwerben können, müssen Situationen so angepasst werden, dass sie dem natürlichen Spracherwerb in hohem Maße ähneln (vgl. Vonen 2012). „A child or an adult learns language by virtue of consistent meaningful exposure, not by being taught one word at a time“ (Miles 2003). In diesem Prozess muss bedacht werden, dass Kinder ohne Behinderung oder Kinder mit einer Hörbehinderung tausende Wörter oder Gebärden hören bzw. sehen, bevor sie ein eigenes Wort oder eine Gebärde produzieren (vgl. Crook & Miles et al 1999, Miles 2003). Dieser fortwährende Input ist für jeglichen Spracherwerb relevant.

Da es sich bei der taktilen Gebärdensprache für die:den Partner:in nicht um die Umgebungssprache handelt, wird sie nur im Kontakt mit dem Menschen mit Tb/Hs eingesetzt. Das heißt auch, dass Kinder mit Tb/Hs selten Input in taktilen Gebärden über Gespräche erhalten, in welchen sie nicht selbst beteiligt sind. Hörende und/oder sehende Kinder hören bzw. sehen Gespräche zwischen anderen Personen vom ersten Lebenstag an. Kindern mit Tb/Hs müssen solche Gespräche bewusst angeboten werden.

Erste Versuche werden in der Taubblindenpädagogik mittels bewusst eingesetzter sozial-taktiler Konversationspraktiken in Form von Two-Party-, Three-Party- und Multi-Party-Konversationen getätigt. Diese Versuche wurden auf Basis von Beobachtungen von Situationen aufgenommen, in denen mehr als eine Person mit einer Person mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung zusammen war, denn hier wurde deutlich, dass die Konversation oft als motivierender, authentisch und natürlich wahrgenommen wird. Natürlich im Sinne des Aufkommens der Konversation ohne gezieltes Planen der Inhalte zuvor. Partner von Menschen mit Geburtstaubblindheit wurden kreativer und entspannter, so dass sie die Kreation geteilter Sinnhaftigkeit unterstützten. Eine Two-Party-Konversation ist eine Konversation von Angesicht zu Angesicht zwischen zwei Personen. Diese Art der Konversation kann ein und denselben Fokus haben, auch wenn das gegenseitige Verstehen (Bedeutungen teilen) nicht zwingend gewährleistet ist. Ob ein gegenseitiges Verstehen entsteht, kommt darauf an, wie sehr die Partner:innen in der Konversation dazu fähig sind, den Äußerungen des Gegenübers zu folgen und einen Sinn aus dem Konversationsthema zu entnehmen. Two-Party-Konversationen kommen häufig in unserem sozialen Leben vor und scheinen eine natürliche Form der Kommunikation zu sein, die sich entwickelt. Two- und Three-Party-Konversationen ähneln einander darin, dass nur ein Konversationsfokus möglich ist. Bei mehr als drei Teilnehmer:innen an einer Konversation können sich zudem Gruppen bilden, so dass sich der Konversationsfokus in verschiedene Two-Party-Konversationen/Episoden aufteilen kann. In den Multi-Party-Konversationen herrscht die höchste Komplexität: Bspw. können zwei Konversationspartner:innen mit einem geteilten Erlebnis einer:einem Dritten, Nichtwissenden eine Geschichte erzählen. In der Konversation können demnach Wissende und nichtwissende Partner:innen sein. Deshalb ist es für die Konversation enorm wichtig, dass die Partner:innen das Erlebnis, über das sie sprechen, geteilt haben. b) Multi-Parteien-Konversationen können ein gutes Mittel in der Kommunikationsentwicklung sein. Informationen zu den individuellen Kommunikationsmethoden sind entscheidend (Nafstad & Rodbroe 2018).

Als Anlass zur Etablierung einer konventionellen taktilen Gebärde bieten sich verhandelte selbst kreierte Gesten, Bewegungen oder anderweitige Äußerungen an. Ehrlich (2011) schlägt vor, die entsprechende Gebärde immer direkt im Anschluss an die Verhandlung einer Bedeutung anzubieten und in passenden Situationen zuverlässig zu wiederholen. Eine weitere Möglichkeit ist es, die konventionelle Taktile Gebärden in wiederkehrenden Aktivitäten beständig einzubringen (vgl. Ehrlich 2011, Schneider & Schuler 2002). Beispielsweise kann vor und während des Einnehmens jeder Mahlzeit die Gebärde ESSEN produziert werden. Es sollte sich vor allem um Situationen handeln, in welchen das Kind bereits eine Idee der Bedeutung der Gebärde im Kopf hat (vgl. Crook et al 1999). Aus diesem Grund betonen Heijnen et al (2014) sowie Crook et al (1999) das Aufgreifen und Folgen der Intention des Kindes. Es muss sichergestellt werden, dass das Kind seine Aufmerksamkeit auf dieselben Dinge richtet wie der Partner. Wählt man eine bedeutsame und das Kind interessierende Situation, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind seine Aufmerksamkeit auf dieselben Dinge wie die:der Partner:in richtet erhöht.

Aktivitäten haben für Kinder mit Tb/Hs zunächst eine höhere Bedeutung als Objekte (Crook et al 1999, Constain 2019). Eine Gebärde die von einem hörenden und/oder sehenden Partner:in intuitiv als Nomen aufgefasst würde (z. B. TRAMPOLIN), repräsentiert für ein Kind mit Tb/Hs vielmehr die gesamte Aktivität (sozusagen als ein Verb) als das Objekt an sich. „Actions are more significant than objects at first. ‚Shoe‘ will mean the activity of putting it on; ‘swing’ will mean the whole experience, not the object” (Crook et al 1999). Um die Bedeutung einer konventionellen Gebärde zu erkennen, muss das Kind durch den fortlaufenden und kohärenten Input verstehen, dass es sich bei der Gebärde um ein Symbol für eine bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Objekt handelt. Dieser Schritt muss erreicht werden, damit das Kind mit der Zeit beginnt, Gebärden zu imitieren. Wie im Spracherwerbsprozess der Laut- oder Gebärdensprache treten dabei zunächst phonologische Fehler auf. So werden die Handform, die Bewegung, die Ausführungsstelle oder die Handstellung anfangs inkorrekt ausgeführt (vgl. Crook et al 1999).

Um das Kind im Erwerb der Taktilen Gebärden zu unterstützen, können – adäquat zum Erwerb einer natürlichen Sprache – (intuitive) unterstützende Strategien eingesetzt werden, die es dem Kind erleichtern, die Sprache zu erwerben (kindgerichtete Sprache bzw. kindgerichtete Gebärden) (vgl. Aktas 2020, Heijnen et al 2014, Leuninger 2000, Spencer & Harris 2006). Als Beispiel kann es hilfreich sein, Gebärden einzuführen, während das Kind auf dem Schoß sitzt, sodass keine räumliche Transformation der Gebärde nötig ist (vgl. Leuninger 2000, Lundqvist et al 2013). Es lassen sich weitere unterstützende Strategien aus dem Visuellen Gebärdenspracherwerb auf den Taktilen Gebärdenspracherwerb übertragen. Im Sinne der Ammensprache können Gebärden größer und langsamer produziert werden. So erhält das Kind mehr Zeit, die Gebärde zu erfassen (vgl. Iversen 2007, Spencer & Harris 2006). Eine weitere Möglichkeit ist, Gebärden direkt oder näher am Körper des Kindes auszuführen. So erhöht sich für das Kind die Wahrnehmung der Gebärde (Spencer & Harris 2006). Das Wiederholte Anbieten der Gebärde hilft ebenfalls, den Erwerb zu unterstützen (Spencer & Harris 2006). Heijnen et al (2014) benennen die Möglichkeit des Scaffolding im Kontext einer angeborenen Tb/Hs, um den grammatischen Erwerb einer Sprache zu fördern. Wichtig ist, Gebärden beständig zu wiederholen und neue Gebärden einzuführen. Nur auf diese Weise kann ein Mensch mit Tb/Hs sein Lexikon erweitern (vgl. Ehrlich 2011).

Wie ein Kind mit Tb/Hs die grammatischen Regeln der Taktilen Gebärdensprache erwirbt, ist bisher unerforscht.


Taktile Gebärdensprache im Kontext angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung

Da Menschen mit angeborener Tb/Hs nicht in einer Gemeinschaft aufwachsen, in welcher die Taktile Gebärdensprache von Generation zu Generation weitergegeben wird, können sie nicht auf ein vollständig entwickeltes konventionelles Sprachsystem zurückgreifen wie dies Menschen mit erworbener Tb/Hs tun (vgl. Arbeitskreis Kommunikation mit hörsehbehinderten/ taubblinden Menschen 2012). Durch die Wahrnehmung der Welt über den taktil-körperlichen Sinn, beruhen mentale Repräsentationen sowie Konzepte und Weltvorstellungen auf diesen Eindrücken. Diese Wahrnehmung der Welt äußert sich in der Taktilen Gebärdensprache von Menschen mit angeborener Tb/Hs. Der Partner ist dadurch dazu veranlasst, die eigene Taktile Gebärdensprache an die individuellen Bedürfnisse des Menschen mit Tb/Hs anzupassen. Eine eins-zu-eins-Übertragung der Visuellen Gebärdensprache, welche auf visuell ikonischen Abbildungen beruht, auf die Taktile Gebärdensprache im Kontext angeborener Tb/Hs ist aus diesem Grund nicht möglich (vgl. Näslund & Kastrup Pedersen 2019). Nach wie vor entstammen die meisten Gebärden in der Taktilen Gebärdensprache im Kontext angeborener Tb/Hs jedoch aus dem Lexikon der Visuellen Gebärdensprache (vgl. Pittroff 2007). Diese sind mit Einbezug der auf taktilen Eindrücken beruhenden Vorstellung von Welt des Menschen mit Tb/Hs teilweise nicht sinnvoll. Die Tanne (Schweizerische Stiftung für Taubblinde) entwickelte die sogenannten Tanne-Gebärden, die an die taktile Wahrnehmung angepasst sind (vgl. Ehrlich 2011). Über den sich unterscheidenden Sinneskanal der Wahrnehmung (taktil statt visuell) kommt bei Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung die sequentielle Präsentation des Inhalts und des sprachlichen Inputs hinzu, da erst etwas tastend erlebt werden kann und im Anschluss eine taktile Präsentation einer Gebärde möglich ist.

Die Forschung zur Taktilen Gebärdensprache im Kontext angeborener Tb/Hs weist gegenwärtig einige Lücken auf. Viele Erkenntnisse stammen nicht aus wissenschaftlichen Studien, sondern aus Erfahrungswerten aus der Praxis, die im Fach von hoher Relevanz sind.

Kommunikationspartner:innen von Menschen mit angeborener Tb/Hs versuchen ihre Taktile Gebärdensprache auf die Bedürfnisse und individuellen Voraussetzungen des Menschen mit Tb/Hs anzupassen. Mögliche Anpassungen sind (vgl. Lundqvist et al 2013, Marx 2018, Lindström 2019):

  • Die veränderte Ausführungsstelle einer Gebärde (näher oder direkt am Körper des Menschen mit Tb/Hs), damit diese einfacher wahrgenommen werden kann.
  • Den Körper des Menschen mit Tb/Hs nicht nur als Artikulationsort, sondern als Artikulator selbst verwenden (z. B. unsymmetrische Beidhandgebärden (EINKAUFEN…)).
  • Veränderung der Interaktionsposition (von face-to-face zu nested-position), um die räumliche Orientierung einer Gebärde nicht spiegelverkehrt anzubieten.
  • Spiegelverkehrte Bewegungsausrichtung (und teilweise Handstellung), um die räumliche Orientierung einer Gebärde aus Sicht des Menschen mit Tb/Hs korrekt anzubieten.
  • Verändertes auf die taktile Wahrnehmung angepasstes Vokabular (z. B. Tanne-Gebärden)
  • Darstellung nonmanueller Elemente (z. B. Markierung der Satzart oder der Rückmeldung) durch eine zusätzliche Gebärde (z. B. FRAGE, um einen Fragesatz zu markieren) oder Körperbewegung (Kopfnicken mit der Hand am Kinn, um Zustimmung auszudrücken).

Im Vergleich zur Visuellen Gebärdensprache zeigen sich in der Taktilen Gebärdensprache von Menschen mit Tb/Hs Veränderungen. Mögliche Veränderungen sind (Lundqvist et al 2013, Marx 2018, Näslund & Kastrup Pedersen 2019, Forsgren et al 2018, Rieber-Mohn 2014, Schjøll Brede 2019):

  • Signs formed as they were perceived: Der Mensch mit Tb/Hs realisiert eine Gebärde so wie er diese wahrgenommen hat (Vergrößerung des Gebärdenraums (z. B. das Ausführen einer Gebärde am Körper des Gegenübers und nicht am eigenen Körper, da das Gegenüber die Gebärde am eigenen Körper produziert), spiegelverkehrte Bewegungsrichtung einer Gebärde, spiegelverkehrte Handstellung einer Gebärde, veränderte Handform)
  • HTP-Signs (Heightened Tactile Perception): Konstruktion der Gebärde gleicht dem taktilen Eindruck, welcher aus der Form und Funktion eines Objekts resultiert.
  • Neben den Händen werden weitere Körperteile (z. B. Beine, Füße…) als Artikulatoren eingesetzt.
  • Aufgrund eines geringen Vokabulars werden bekannte Gebärden teilweise auf andere Kontexte übertragen und kreativ verwendet.

Literatur

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Arbeitskreis Kommunikation mit hörsehbehinderten/ taubblinden Menschen (2012). Empfehlungen zum Taktilen Gebärden. In: Lemke-Werner, G. & Pittroff, H. (Hrsg.): Taubblindheit, Hörsehbehinderung - ein Überblick. Würzburg: Ed. Bentheim

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

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