Sequentielle Traumatisierungsprozesse bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen
Zitiervorschlag: Gitschier, L. (2020). „Sequentielle Traumatisierungsprozesse bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:traumatisierung_gefluechtete, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Ein Blick auf Studien zur psychosozialen Situation junger Flüchtlinge zeigt Folgendes: Trotz unterschiedlicher Erfahrungen und individueller Erlebnisverarbeitung handelt es sich bei den psychischen Belastungen geflohener Kinder und Jugendliche oftmals um Sequentielle Traumatisierungsprozesse (Hargasser 2014, Pro Asyl 2006, Zimmermann 2012). Darunter werden das Ineinanderwirken und die Kumulation des schwerwiegenden psychischen Stresses in der Prä-, Peri- und Postmigrationsphase verstanden (vgl. Becker 2014). Aus diesem Blickwinkel gibt es kein „Nach-dem-Trauma“ (Becker 2014) sondern nur einen sequentiellen traumatischen Prozess, der sich im „heilenden oder zerstörerischen Sinne“ (ebd.) nach der akuten Bedrohung fortsetzt. Es zeigt sich, dass für den Verlauf des traumatischen Prozesses die sozialen und politischen Lebensumstände sowie die aktuelle Beziehungssituation entscheidend sind, da sie die Traumatisierungskette entweder unterbrechen und mildern oder diese aufrechterhalten und verstärken (vgl. Zimmermann 2012). |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Mit Hilfe der Theorie kann die psychosoziale Situation der geflüchteten Kinder und Jugendlichen besser nachvollzogen werden. Auf diesem Verstehen aufbauend können Lehrkräfte dazu beitragen, dass Traumatisierungsprozesse nicht weiter verstärkt werden. 1. Geflüchtete Kinder und Jugendlicher stehen zum einem vor enormen Bewältigungsaufgaben bezüglich ihrer traumatischen Erfahrungen. Zum anderen sind sie mit erschwerten Lebensbedingungen und extrem hohen Anpassungsleistungen in Deutschland konfrontiert. 2. Sie bleiben häufig alleine mit ihren psychischen Belastungen. Zudem sind die beschriebenen Lebenslagen häufig derart komplex, dass sie alleine nicht bewältigt werden können (vgl. Gitschier 2015). 3. Das dadurch bedingte Erleben von Angst, Hilflosigkeit und Überforderung führt zur Verschärfung des Traumatisierungsprozesses (vgl. Hargasser 2014). Es kommt vermehrt dazu, dass die jungen Flüchtlinge in den Schulen auffällig werden. In Folge dessen kommt es häufig zu schwerwiegenden Interaktionsstörungen mit den Lehrpersonen und einer Blockade des Bildungs- bzw. des Bewältigungsprozesses (vgl. Gitschier 2015). 4. Lehrkräfte sollten sich für die Bewältigungsprobleme der geflüchteten Kinder und Jugendliche öffnen sowie in bewusst gestaltete und reflektierte Beziehungen mit den geflüchteten Kindern und Jugendlichen treten, z.B. durch Supervision oder Fallberatung. |
Grenzen | Emotionen sind nie direkt sichtbar, deswegen sollte vorsichtig, offen und in Abstimmung vorgegangen werden. Emotionsregulation entwickelt sich langsam und prozesshaft über die Beziehung zu bedeutsamen Anderen. Die Veränderung und Differenzierung der Emotionsregulation ist bei jungen Menschen, die schwierige psychosoziale Erfahrungen gemacht haben, ein langwieriger und herausfordernder Prozess. Er braucht belastbare und längerfristig angelegte Beziehungen in denen neue Erfahrungen gemacht werden können. Neben den Grenzen, die in der Traumapädagogik grundsätzlich gelten (Notwendigkeit einer therapeutischen/klinischen Intervention, Überlastung der pädagogischen Fachkräfte, Selbstfürsorge) wirken in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen häufig die sprachlich eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten sowie das Erleben von großen kulturellen Unterschieden hemmend. |
Diagnostische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Theorie | - Gibt es ein Wissen über potentiell traumatische Situationen denen der junge Mensch ausgesetzt war (insbesondere alle Formen von Gewalt, Missachtung, Vernachlässigung und Verlust)? - Gibt es ein Wissen über Symptome die zu Traumafolgeerscheinungen passen würden? - Gibt es im Bezug auf die aktuelle Lebenssituation traumaaufrechterhaltende Umstände? - Gibt es ein Wissen darüber, welche psychosozialen Aufgaben bewältigt werden müssen? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | siehe Traumapädagogik |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Akute Interventionen siehe Traumapädagogik Längerfristige Interventionen a) Pädagogik des sicheren Ortes Ergänzend zu den Ausführungen im Text Traumapädagogik werden hier nun flüchtlingsspezifische Überlegungen zu einer Pädagogik des sicheren Ortes aufgeführt. Der Traumatisierungsprozess bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen muss aus den Befunden zur sequentiellen Traumatisierung heraus immer auch in der Gegenwart verortet und nicht alleine auf Extremerfahrungen im Herkunftsland und während der Flucht bezogen werden (vgl. Zimmermann, 2012). Demzufolge beinhaltet die Anerkennung der traumatischen Erfahrungen auch die Einordnung der aktuellen Lebensbedingungen als Teil des traumatischen Prozesses. Es bietet sich deswegen an, Kommunikationsräume zu schaffen, in denen u.a. auch das Spannungsverhältnis von Lehrkräften thematisiert werden kann, die einerseits als Repräsentanten des mitunter als Verfolger wahrgenommenen Staates fungieren und die zugleich fürsorglich handelnde Vertrauenspersonen sind. Im Kontext der sozialen und rechtlichen Benachteiligung von geflohenen Kindern und Jugendlichen ist eine professionell-solidarische Haltung der Lehrkräfte Voraussetzung für einen Beziehungsaufbau. Wie die Untersuchungen von Zimmermann (2012) zeigen, können junge Flüchtlinge die Schule häufig auch deswegen nicht als sicheren Ort erleben, da sie selbst eine übersteigerte schulische Leistungsorientierung entwickeln. In ihrer Fantasie hoffen sie, dass gute Schulleistungen ihnen und ihrer Familie eine Aufenthaltserlaubnis und somit die lang ersehnte Sicherheit ermöglichen. Unter diesen Umständen lastet ein sehr hoher Druck auf den Kindern und Jugendlichen, der ein intrinsisch motiviertes Lernen unmöglich macht und einer gelingenden Bewältigung entgegensteht. Wichtig erscheint es, die Institution Schule als einen Raum zu gestalten, der zwar Angebote zu einem aktiven Lernen bereitstellt, der aber immer auch ein Passivsein erlaubt (ebd., 2012). Wenn nötig, sollte es bei extremen psychischen Belastungen möglich sein, den Kindern und Jugendlichen an den Schulen ein „Moratorium“ über längere Zeiträume einzurichten, das fern von gesellschaftlichen und schulischen Anforderungen liegt. siehe dazu auch Traumatheorie b) Unterstützung der Bewältigungsprozesse durch realitätsnahen Unterricht: Das Ziel des realitätsnahen Unterrichts ist es, die Kinder und Jugendlichen zu befähigen, die lebenslagenbedingten Herausforderungen sowohl subjektiv befriedigend als auch sozial verträglich zu bewältigen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig die Inhalte der schulischen Bildung unmittelbar auf die spezifischen Lebenslagen der jungen Flüchtlinge mit ihren virulenten, alltäglichen Problemstellungen auszurichten. Durch die Behandlung anstehender Alltagsproblematiken im Unterricht kann auf die An- und Überforderungen in der Alltagsgestaltung reagiert werden. Werden diese Problembereiche durch zielgruppenspezifische inhaltliche und methodische Gestaltung konkret thematisiert sowie diesbezügliches Handlungswissen bzw. -kompetenzen erworben, ist eine Entlastung der psychosozialen Situation zu erwarten, die sich positiv auf die Traumaverarbeitung und die Bewältigungsleistung der geflohenen Kinder und Jugendlichen auswirkt (vgl. Gitschier 2015). Auch in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen ist es sehr wichtig in die Selbstfürsorge und Verarbeitungsmöglichkeit der pädagogischen Fachkräfte zu investieren. |
Literatur
Becker, D. (2014). Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Neuauflage der 2. Auflage von 2006. Freiburg. Gitschier, L. (2015). Beschulung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen – Lernen am Rande der Gesellschaft. Staatsexamensarbeit PH Ludwigsburg.
Hargasser, B. (2014). Unbegleitete Flüchtlinge. Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe. Frankfurt am Main.
Pro Asyl e.V. (2006). Vom Fliehen und Ankommen. Flüchtlinge erzählen. Karlsruhe.
Zimmermann, D. (2012). Migration und Trauma. Pädagogisches Verstehen und Handeln in der Arbeit mit Flüchtlingen. Gießen.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg