wsd:verhalten:theorien_verhalten:selbst
Entwicklung des Selbst
Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2020). „Entwicklung des Selbst“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:selbst, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Definitorisch besteht das Selbst aus dem Wissen und Gefühlen des Kindes über sich selbst (vgl. Berk, 2006). Die Entwicklung des Selbst ist von klein auf psychosozial, bindungsbasiert, kommunikativ und interaktiv: Das Selbst konstituiert sich also durch den anderen (Küchenhoff, 2009, 5). Dies ist als ein steter und lebenslanger psychosozialer Prozess zu verstehen, bei dem das sich aufbauende Selbst damit beschäftigt ist, innere und äußere Eindrücke, Dynamiken, mentale Zustände und indirekt auch gesellschaftliche Umstände zu verarbeiten. Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen: „Wie erfahren Kinder sich selbst? „Was wissen Kinder und Jugendliche zu welchem Zeitpunkt Ihrer Entwicklung über sich selbst?“ Hierzu einige wichtige beispielhafte Entwicklungsschritte (vgl. Siegler et al. S. 412 ff): Schon in den ersten Lebensmonaten beginnt eine rudimentäre Vorstellung von einem Selbst (2.-4. Monat z.B. Objekte wie Mobiles kontrollieren). Im 3.-5. Monat entsteht die Idee von der Urheberschaft eigener Bewegungen (Babys schauen länger auf Bewegungsvideo der eigenen Beine als anderer Kinder). Ca. im 8. Monat entsteht Trennungsangst (landläufig: Fremdeln genannt). Babys können sich und die engsten Bindungspersonen endgültig als getrennte Wesen erkennen, damit werden Verluste bemerkbar. Mit einem Jahr werden über geteilte Aufmerksamkeit, wie z.B. Zeigen und kongruente Blickfolge, Bezugspersonen geprüft, ob die Blickfolge korrekt ist. Ab ca. 18-20 Monaten können sich Kinder selbst im Spiegel erkennen (s. z.B. Rouge-Test https://www.youtube.com/watch?v=M2I0kwSua44) Mit 2 Jahren sind bereits viele Kinder in der Lage sich selbst auf Fotos zu erkennen. Ein wichtiger Marker in dieser Zeit ist auch die Sprache: Neu wird das Personalpronomen „ich“ verwendet. Im 3. Lebensjahr können Gefühle von Verlegenheit und Scham aufkommen. Um diese zu spüren, braucht es ein Selbstgefühl. Das Selbstkonzept von Vorschulkindern ist dann ungewöhnlich positiv: Sie scheinen zu denken, dass sie tatsächlich so sind, wie sie sein wollen. Die Leistungs- und Bewertungsanforderungen von Schule zwingen Kinder dazu, sich auf einer realen Ebene sozialen Vergleichen ausliefern zu müssen und Rückmeldungen dafür zu bekommen. Auch durch die kognitive Entwicklung wird des Selbstkonzept im späteren Grundschulalter verfeinert und abstrakter und kann mit der Zeit auch kleinere Widersprüche in sich vereinen, z.B. in der Schule gut und schlecht sein. Mit Blick auf die Pubertät spielt die Meinung der Peers eine zunehmende Rolle. Geringes Selbstwertgefühl kann gerade durch Fremdattributionen der Peers verstärkt werden. Auch über das Einsetzen des abstrakten Denkens wird das Selbstkonzept in der Adoleszenz nochmals feiner und abstrakter als in der Kindheit. Im mittleren Jugendalter quälen sich Jugendliche häufig mit Widersprüchen ihres Verhaltens und ihrer Eigenschaften. Sie suchen Antworten auf die Frage: „Wer bin ich?“ Widersprüche werden besser erkannt, können aber kognitiv noch nicht in ein kohärentes Selbstkonzept integriert werden. In der späten Adoleszent und im frühen Erwachsenenalter gelingt die Integration besser, die Abhängigkeit von der Meinung der Peers lässt nach. |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Das Selbst ist in der westlichen und industrialisierten Welt spätestens seit der Aufklärung Dreh- und Angelpunkt einer hoch individualisierten Entwicklung von klein an. Deswegen hat es höchste Implikationen auf alle Verhaltenssysteme des Menschen. Dabei können eher bewusste von eher unbewussten Teilen des Selbst unterschieden werden. 1. Nach Ideen z.B. aus der humanistischen Psychologie strebt das Selbst nach Selbstentfaltung. Dieser Prozess ist ein starker Entwicklungsmotor. Der Mensch ersucht, äußere und innere Einflüsse und sein Verhalten so zu „koordinieren“, dass er handlungs- und entwicklungsfähig bleibt. Damit verbunden ist übergeordnete Bedeutung der Entwicklung des Selbst für die Entwicklung der Emotionsregulation. 2. Das Selbst ist darüber hinaus ein biografischer Spiegel seiner psychosozialen Erfahrungen und Verarbeitungsmöglichkeiten. Es konturiert sich im Laufe des Lebens, gleichzeitig bleibt es bei psychischer Gesundheit und in einer anregenden Umwelt offen für notwendige Veränderungsprozesse. 3. Insbesondere langanhaltende Traumatisierungen durch Menschen aus dem nahen Umfeld in allen Formen der Kindeswohlgefährdung bedrohen das Selbst von Kindern und Jugendlichen massiv. Die beeinträchtigte „Steuerungssfähigkeit“ des Selbst führt im Sinne der Traumalogik zu einer Art psychischen Überlebensmodus. Damit ist in der Folge weder psychosoziales noch kognitives Lernen konfliktfrei möglich. 4. Da das Selbst entwicklungslogisch stark über soziale Beziehungen und Erfahrungen geprägt wird, stellt dies in einem kompensatorischen Sinne eine große Chance für pädagogische Beziehungen dar. |
Grenzen | Alle Menschen verfügen über ein wie auch immer geartetes Selbst - zumindest als rudimentäres internes Steuerungs- und Speicherungssystem. Allerdings muss an dieser Stelle dringend davor gewarnt werden, dass die scheinbar typischen Ausformungen des Selbst mit seinen analogen Verhaltensweisen, wie wir sie in der hoch industrialisierten Welt kennen, in allen Kulturen gleich vorzufinden sind. Immer wieder gibt es Missverständnisse und Auseinandersetzungen im pädagogischen Kontext, weil Kinder und Jugendliche ihr Verhalten auf Gemeinschaften und Gesellschaften beziehen, in denen der Einzelne zugunsten von Kollektiven zurücktritt oder weil die Ausformung des Selbst aus Sicht der westlich geprägten Kultur weniger kognitiv und reflexiv ausgerichtet ist. Da sich das menschliche Selbst weltweit also in vielen Formen ausdrücken kann, muss diesem Umstand in einer inter- und transkulturell ausgerichteten Pädagogik unbedingt Rechnung getragen werden. |
Diagnostische Fragen im Zusammenhang mit der Theorie | siehe Konzepte des Selbst |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | siehe Konzepte des Selbst |
Imuplse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | siehe Konzepte des Selbst |
Literatur
Berk, L. E. (2006). Entwicklungspsychologie. München: Pearson.
Küchenhoff, J. (2009). Definitionen und Beziehungsarbeit. In: Küchenhoff J. / Mahrer Klemperer R. (Hrsg.): Psychotherapie im psychiatrischen Alltag. Die Arbeit an der therapeutischen Beziehung. Stuttgart: Schattauer, 2–11.
Siegler, R., Eisenberg, N., DeLoache, J. & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. 10.1007/978-3-662-47028-2.
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