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Rett-Syndrom F84.2

Zitiervorschlag: Kopp, S. (2020). „Rett-Syndrom F84.2“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d020, CC BY-SA 4.0

ICD 10 bzw. 11- F84.2 Dieses Zustandsbild wurde bisher nur bei Mädchen beschrieben; nach einer scheinbar normalen frühen Entwicklung erfolgt ein teilweiser oder vollständiger Verlust der Sprache, der lokomotorischen Fähigkeiten und der Gebrauchsfähigkeiten der Hände gemeinsam mit einer Verlangsamung des Kopfwachstums. Der Beginn dieser Störung liegt zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Der Verlust zielgerichteter Handbewegungen, Stereotypien in Form von Drehbewegungen der Hände und Hyperventilation sind charakteristisch. Sozial- und Spielentwicklung sind gehemmt, das soziale Interesse bleibt jedoch erhalten. Im 4. Lebensjahr beginnt sich eine Rumpfataxie und Apraxie zu entwickeln, choreo-athetoide Bewegungen folgen häufig. Es resultiert fast immer eine schwere Intelligenzminderung.
Statistik- Das Syndrom gehört nicht zu den extrem seltenen Krankheiten.
- Prävalenzangaben: zwischen 1:12000 und 1:23000.
- Auszugehen ist von einem Mädchen mit Rett-Syndrom unter 10 Mädchen mit mehrfacher Behinderung.
Ursachen und RisikofaktorenKlassische und atypische Form
- Mutation des MECP2-Gen bei 95% der Patientinnen auf dem langen Arm des X-Chromosoms (Xq28)
- Variabilität im Schweregrad der Ausprägung enorm hoch
- Als Ursache wir eine Spontanmutation vermutet
Risikofaktoren in Bezug auf schwieriges Verhalten
Biografische Entwicklung
- Sozial oft wenig integriert
- Wiederholte negative Lebensereignisse
Familiendynamik
- Hohe familiäre Belastung aufgrund des regressiven Charakters der Erkrankung
- Hohe Elternbelastung, Dauerstress möglich für gesamte Familie durch Interaktionsschwierigkeiten und Einschränkungen im Alltag
- Selbstständigkeit stark eingeschränkt
- Kommunikation erschwert, begünstigt inadäquates Verhalten
- Überängstliche Eltern
Individuelle Vorrausetzung
- Ausdruck von Schmerz, Missbehagen und Bedürfnissen nicht verständlich
- außergewöhnliche Handbewegungen, Verlust der willentlichen Handbewegungen: Selbstverletzungen möglich, starke Bespeichelung führt zu Kontaktabbrüchen
- Fehlende kommunikative Ausdrucksmöglichkeiten führen auch zu inadäquatem Ausdruck bei Verzweiflung, Frustration, Überforderung durch Reize oder Ausdruck von Freude
Das Verhalten der Mädchen ist in weiten Teilen durch autonome zentralnervöse Muster zu verstehen, die nicht willentlich kontrolliert werden können.
Komorbidität (je nach Quelle) - Skoliose, Epilepsie, Atmungsauffälligkeiten und Hypotonie
Differentialdiagnose v.a. am Beginn schwierig (Nähe zu Autismus, Nähe zu Angelman-Syndrom)
SymptomeAllgemeine Beschreibung
- Prä- und perinatale Entwicklung in der Regel unauffällig
- Insgesamt schwere und mehrfache Behinderung
- teilweise oder vollständiger Verlust der Sprache
- Verlust der lokomotorischen Fähigkeiten, der Gebrauchsfähigkeiten der Hände sowie Verlangsamung des Kopfwachstums
- Charakteristische Muster sind der Verlust zielgerichteter Handbewegungen, Stereotypien in Form von Drehbewegungen der Hände und Hyperventilation
- Phase der Verlangsamung und Stagnation zuerst beim Laufen, dann rascher Verfall
- Charakteristisches Muster von kognitiver und funktionaler Stagnation und Rückentwicklung in allen Bereichen
Körperfunktionen/Körperstrukturen
- Aufmerksamkeit in allen Bereichen stark eingeschränkt (selektive und geteilte, Daueraufmerksamkeit)
- Entwicklungsstörung des Hirnstammareals und hohe sensorische Empfindlichkeit
- Keine Objektpermanenz
- Kognitive und adaptive Fähigkeiten allgemein stark eingeschränkt
- Es resultiert fast immer eine schwere Intelligenzminderung.
- Gastrointestinale Probleme und Anfallsleiden
- Schlafstörungen und Zahnschmerzen
- Sprechfunktionen eingeschränkt: neurologisch bedingte verbale Apraxie
- Die Handstereotypien gehören grundsätzlich zum Rett-Syndrom. Ziel sollte deshalb nicht sein, die Handbewegungen zu unterbinden.
- typisch wringende, waschende und klopfende Handstereotypien
- haben tendenziell zwanghaften Charakter und unterliegen nur bedingt der willentlichen Steuerung: → Verlust der Fähigkeit, die Hände willentlich einzusetzen
Aktivitäten und Teilhabe
- Die Sozial- und Spielentwicklung sind gehemmt, jedoch bleibt das soziale Interesse erhalten.
- Kommunikative und sprachliche Fähigkeiten allgemein stark eingeschränkt
- Blickrichtung als dominanter kommunikativer Weg
- Non-verbal, lautierend
- Nicht unbedingt strukturiert
- Sonst alle bekannten Kommunikationsstrategien (UK)
- Passiver Wortschatz schlecht einschätzbar (kann höher sein als angenommen)
- Emotional labil bis ängstlich, Ausdruck davon divers: selbstverletzendes Verhalten, Erschrecken, Hyperventilation
Weitere auffällige Aktivitäten:
- Schlagen, Beißen, Haare reißen, Zähne knirschen, andere Stereotypien, Grimassieren
- Lachanfälle, Wein- und Schreiattacken (als Signal für Wut, Trauer, Frustration und Schmerz), Rückzugsverhalten, Zähneknirschen (Bruxismus), Speichelfluss
- Selbstversorgung, Mobilität, Umgang mit Anforderungen und Aufgaben
- Kognitives Entwicklungsalter im Schnitt ca. einjährig
- Einfache Zusammenhänge zwischen Ereignissen verstehen und antizipieren tlw. möglich
- Umgang mit Objekten ist eingeschränkt, Störungen des Handgebrauchs
- Essstörungen: Fähigkeit ist regredierend, einige wenige erlernen es wieder
- Tägliche Lebensfertigkeiten können nicht ohne Hilfe bewältigt werden: Anziehen, waschen etc.
Intervention allgemeinPädagogische Möglichkeiten für den Umgang mit auffälligem Verhalten:
- Kooperative Situationen schaffen, Frühförderung, Unterstützte Kommunikation, Flexible Anpassung der Umwelt, Vermeidung von Reizvielfalt
- Konzentration nur auf eine Sache möglich, schnell ablenkbar
- Verzögerte Reizaufnahme und Reaktionszeit bedenken
- Rasche Ermüdung sorgt für mangelndes Interesse
- Abschalten bedeutet Erholung und Verarbeitung der Eindrücke
- Zeit lassen
- Gelegenheit zur Wiederholung
- Gestaltung einer verstehbaren und vorhersehbaren Umwelt durch Struktur und Klarheit: Einführen von Routinen und Ritualen
- Zeit, Raum, Objekte und Personen anschaulich darstellen
- Analyse von individuellen Bedingungen der Stimmungsschwankungen für körperliches Unbehagen (z.B. Verstopfung, Schmerzen, Anfälle) und Bedürfnisse (Haltung, Mobilität, anregende Sinnesangebote, soziale Beteiligung, Hunger, Schlaf)
- Behandlung der Verdauungsstörungen durch Flüssigkeitszufuhr, ballaststoffreiche Ernährung, Bewegung usw.
Therapeutische Möglichkeiten:
- Physiotherapie, Krankengymnastik und Ergotherapie
- Sprachtherapie, Logopädie und Anwendung von unterstützter Kommunikation \\Klinische Möglichkeiten:
- Medikamentöse Behandlung bei Epilepsie, evtl. Spastik, Behandlung der Verdauungsstörungen
- Korsettbehandlung der Skoliose sowie orthopädische Hilfsmittel
- Operative Eingriffe bei Skoliose, selten bei Spastik
Intervention konkretFallskizze eines Mädchens an einem SBBZ KMENT/GENT
Rechtliche AspekteIn manchen Situationen werden Maßnahmen wie Fixierung, Isolierung oder Medikamentenverabreichung vorgenommen, um die Schüler*innen vor sich selbst oder anderen Personen zu schützen. Dies sind freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM). Sie stellen einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar und müssen stets genehmigt werden. Rechtliche Grundlagen bilden das Grundgesetz (Art. 1 & 2) sowie das Bürgerliche Gesetzbuch (§1631b BGB) und das Familienverfahrensgesetz (FamFG).

Literatur

Sarimski, K. (2014). Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome. Hogrefe 2014.

Dworschak, W. et al. (2018): Herausforderndes Verhalten und freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. In: Teilhabe 4/2018, Jg. 57, S. 414-458.


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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

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