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Auffälliges Verhalten im Kontext Hörschädigung

Zitiervorschlag: Rauner, R. (2020). „Auffälliges Verhalten im Kontext Hörschädigung“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d19, CC BY-SA 4.0

ICD10 bzw. 11- H60 - H62 Krankheiten des äußeren Ohres
- H65 – H75 Krankheiten des Mittelohres und des Warzenfortsatzes
- H80 – H83 Krankheiten des Innenohres \\- H90 – H95 Sonstige Krankheiten des Ohres
StatistikMehrere wissenschaftliche Arbeiten setzten sich mit der Zahl der Betroffenen auseinander. Nach einer Studie des Mediziners Dr. Sohn (Universität Witten-Herdecke, 2000) sind 19 Prozent der deutschen Bevölkerung über 14 Jahre hörbeeinträchtigt.
Auf Basis der Studie von Sohn hat der Deutschen Schwerhörigenbund e.V. 2005 folgende Zahlen veröffentlicht:
Der Grad der Hörbeeinträchtigung variiert in der Personengruppe wie folgt:
- 56,5 % leichtgradig schwerhörig
- 35,2 % mittelgradig schwerhörig
- 7,2 % hochgradig schwerhörig
- 1,6 % an Taubheit grenzend schwerhörig
DiagnostikDie förderschwerpunktspezifischen Arbeitshilfen Verhalten können hierfür verwendet werden
https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:arbeitshilfen:verhalten
Ursachen und Risikofaktoren in Bezug auf die Entwicklung auffälligen VerhaltensDie Frage, ob eine Hörschädigung dazu führt, dass davon Betroffene grundsätzlich eine andere psychische Struktur entwickeln als hörende Menschen, ob also Menschen mit Hörschädigung besondere Verhaltensmerkmale aufweisen, die so bei Hörenden nicht festzustellen sind, lässt sich mittlerweile sehr sicher mit „nein“ beantworten (Hintermair 2005).
Studien weisen aber auf den Umstand hin, dass sich hörgeschädigte Kinder und Jugendliche nicht in der Qualität der gezeigten Auffälligkeiten im Bereich Verhalten unterschieden, sehr wohl aber in der Häufigkeit und ihrer Dauer. Insgesamt ist die Häufigkeit der festgestellten Verhaltensauffälligkeiten im Durchschnitt zwischen drei- bis sechsmal höher als bei hörenden Kindern (Hintermair 2005).
Woran könnte es liegen, dass Kinder und Jugendliche mit Hörschädigung häufiger und insgesamt über einen längeren Zeitraum hinweg Verhaltensauffälligkeiten zeigen?
- Vorliegende Untersuchungen deuten mehrheitlich darauf hin, dass (im Vergleich zu Hörenden) bei Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung Rückstände in der Entwicklung des Verstehens von Emotionen bestehen. Hörende Kinder profitieren davon, dass ihre visuelle Wahrnehmung von Emotionen auch in auditive Kontexte eingebunden ist, in denen sie zusätzliche anregende und erklärende Informationen erhalten (Hintermair, Sarimski 2016).
- Ein Großteil der Studien zum Thema Theory of Mind zeigen bei Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung ebenfalls eine deutliche Verzögerung in der Entwicklung, wobei sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der sprachlichen Entwicklung der Kinder und der Entwicklung der Theory of Mind ergibt. Auch die Qualität der Gespräche von Eltern mit ihren Kindern scheinen hier eine besondere Relevanz aufzuweisen (Hintermair, Sarimski 2016).
- Auch die Untersuchungen zur Entwicklung der exekutiven Funktionen bei Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung ergeben deutliche Entwicklungsrückstände im Vergleich zu Hörenden. Die Entwicklung der exekutiven Funktionen hängt eng mit dem sprachlichen Entwicklungsstand der Kinder (dem Aufbau der so genannten „inneren Sprache“), bzw. der Qualität der kommunikativen Kompetenzen (Hintermair, Sarimski 2016).
- Auch die Kontaktaufnahme hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher wurde untersucht. Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit Hörschädigung zum Teil häufiger als hörende Kinder versuchen, Kontakte aufzunehmen, damit aber weniger erfolgreich sind. Es bestehen auch mehr Probleme, sich in bereits laufende soziale Interaktionen einzubringen (Hintermair, Sarimski 2016).
Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Hörschädigung müssen folgende Risikofaktoren daher zusätzlich in den Blick genommen werden:
Biografische Entwicklung
- Frühe Stresserfahrung durch medizinisch notwendige Untersuchungen
- Später Zeitpunkt der Diagnose Hörschädigung/langer Zeitraum zwischen Diagnose und hörtechnischer Versorgung
Familiendynamik
- Hohe Elternbelastung/elterliches Stresserleben aufgrund der Diagnose „Hörschädigung“
- Ablehnung, Verwöhnung oder Überbehütung aufgrund der Diagnose „Hörschädigung“
- Beeinträchtigung der Sensitivität und Responsivität („intuitive parenting“) der engsten Bezugspersonen aufgrund des Diagnoseschocks
- Fehlendes Anpassung der Eltern an das Kommunikationsverhalten und die Kommunikationsform ihres hörgeschädigten Kindes („matching“)
- Schwierigkeiten in der kommunikativen Interaktion in der Familie
Selbst
- Geringes Selbstwertgefühl aufgrund der Hörschädigung
- Fehlende Möglichkeiten/Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Hörschädigung
- Passive Grundhaltung in der Kommunikation mit anderen aufgrund des häufig nicht gesicherten Sprachverständnisses
Individuelle Voraussetzungen
- Kein ausreichend gesichertes Kommunikationssystem
- Im Vergleich zu hörenden Kindern/Jugendlichen verzögerte Entwicklung der Theory of Mind
- Schwierigkeiten in der Entwicklung der exekutiven Funktionen aufgrund fehlender sprachlicher Kompetenzen
- Mangelnde Bereitschaft zur Kommunikation als Folge des erhöhten Kommunikationsaufwands
- Fehlende Kompetenzen zur Formulierung der eigenen Kommunikationsbedürfnisse
Gesundheit
- Zusatzbehinderung des Kindes/Jugendlichen
(Vor-) schulischer Kontext
- Eltern nehmen das Angebot der Frühförderung nicht wahr
- Schwierigkeiten in der kommunikativen Interaktion
Peerbeziehung
- Mobbing aufgrund der Hörschädigung
- Fehlende Peer-Kontakte zu anderen Kindern/Jugendlichen mit Hörschädigung
- Schwierigkeiten in der kommunikativen Interaktion mit Peers
Intervention allgemein- Frühe medizinische Diagnostik und optimale hörtechnische Versorgung
- Etablieren eines verlässlichen Kommunikationssystems
- Angebote der Frühförderung und Beratungsstellen
- Ermöglichen von Peer-Kontakten zu anderen Kindern/Jugendlichen mit Hörschädigung
- Ermöglichung von Kontakten zu erwachsenen Menschen mit Hörschädigung („role models“)

Literatur

Hintermair, M & Sarimski, K (2016). Entwicklung hörgeschädigter Kinder im Vorschulalter. Stand der Forschung, empirische Analysen und pädagogische Empfehlungen. Heidelberg: Median Verlag.

Hintermair, M (2005). Familie, kindliche Entwicklung und Hörschädigung. Theoretische und empirische Analysen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.


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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

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