Traumatheorie
Zitiervorschlag: Gingelmaier, S., Brandstetter, R., Annecke, L. (2020). „Traumatheorie“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:traumatheorie, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Ein Trauma entsteht, wenn eine Person sich in einer lebensgefährlichen (oder derart wahrgenommenen) Situation befindet und weder kämpfen, noch fliehen kann und somit massive Ohnmacht erlebt (vgl. Kühn & Bialek, 34). Grundlegend wird in der aktuellen Traumatheorie unterschieden zwischen 1. der/den potentiell traumatischen Situationen und 2. den Traumafolgen Wenn es im Erleben des Traumaopfers zum Gefühl einer ausweglosen, lebensbedrohlichen Ohnmacht kommt, es der Person also unter Extrembedingungen in einer Situation nicht gelingt, zu Kämpfen oder zu Fliehen (Fight oder Flight), liegt eine traumatische Situation vor. Der Organismus schützt den Menschen unwillkürlich mit Freeze- und/oder Fragment-Reaktionen. Freeze meint in der traumatischen Situation eine Distanzierung von der Todesangst z.B. durch die Hormone Endorphin oder Noradrenalin (vergleichbar auch mit dem Totstellen bei Tieren). Außerdem werden die traumatischen Eindrücke als Schutz zersplittert wahrgenommen und gespeichert (Fragement). Wird das Trauma binnen eines halben Jahres nicht verarbeitet, spricht man von Traumafolgestörungen (z.B. Posttraumatische Belastungsstörung). Symptomatisch sind für Traumafolgestörungen besonders 1. Überregungen (Hyperarousel), 2. Überwältigende Erinnerungen (Flashbacks, Intrusionen) und 3. Entlastungssymptome (Vermeidungsverhalten, Dissoziation, Konstriktion) Ein Trauma ist damit eine seelische Schwerstverletzung. Trauma können unterschiedlich kategorisiert werden. Eine gängige Kategorisierungs-Matrix ist die Unterscheidung in Traumatyp I (Schocktrauma, Monotrauma, z.B. eine Vergewaltigung durch einen Unbekannten, Tod einer nahen Bezugsperson) und Traumatyp II (Polytrauma: z.B. über Jahre andauernder sexueller Missbrauch, langjährige Vernachlässigung durch ein Familienmitglied oder häufige Krankenhausaufenthalte durch eine chronische Erkrankung). Ebenfalls wird in der Verursachung unterschieden, ob die Traumaursache naturbedingt (nature-made, z.B. durch ein Erdbeben verursacht) oder von Menschen (man-made, z.B. Verkehrsunfall, Misshandlung) verursacht ist (Kanz, 2017). Daneben ist nach der überprüften Theorie der sequentiellen Traumatisierung (Becker, 2014) für die Traumaverarbeitung auch die Zeit vor und nach der eigentlich traumatischen Situation entscheidend (z.B. im Fall von traumatischen Fluchterfahrungen). Da die Bandbreite traumatischer Situationserfahrungen so groß ist, kann ein einheitliches Traumasyndrom nicht zu erwarten sein (Fischer & Riedesser 2009, S. 46). „Trauma“ ist also keine Diagnose, eine Diagnose ist zum Beispiel eine auf ein Trauma folgende Posttraumatische Belastungsstörung oder eine dissoziative Identitätsstörung. (vgl. Fischer/Riedesser, 21ff). Klassifikationsschlüssel, die Diagnosekriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung definieren, sind beispielsweise die ICD-10/ICD-11 und der DSM-V (Fischer & Riedesser 2009, S. 47f). |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | - Traumafolgen haben biologisch-körperliche, psychische und soziale Dimensionen, die sich überschneiden und miteinander interagieren. - Traumatisierungen können sich in Form von Traumafolgen direkt oder indirekt sehr stark im Verhalten manifestieren. Sie können schwer oder kaum zu beherrschende Reaktionen bei den Traumaopfern und in Folge teilweise bei deren sozialen Umfeld auslösen. - Typische Verhaltensweisen als Traumafolgereaktionen (auch im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung) sind internalisierend z.B. Dissoziationen, Flashbacks und insgesamt eine erhöhte Stressvulnerabilität. - Gerade Kinder und Jugendliche zeigen aber oftmals auch atypische externalisierende oder uneinheitliche Traumafolgereaktionen. Hierzu zählen insbesondere auch, Unruhe, Unkonzentriertheit und aggressives, oppositionelles bzw. ausgierendes Verhalten |
Grenzen | Das Trauma ist ein relativ klar beschriebenes biopsychosoziales Phänomen. Die Grenzen liegen in einer undifferenzierten Übergeneralisierung des Konzeptes. Nicht jeder Scheideweg, jedes belastende Ereignis und nicht jede Lebenskrise sind traumatisierend, denn es ist wichtig, dass die beschriebene Abfolge für Traumafolgeerscheinungen grob vorhanden ist: 1. Traumatische(n) Situation(en) 2. Subjektiv als lebensbedrohlich empfundenes Gefühl der Ohnmacht 3. Nicht-Verarbeitung der Situation über ein halbes Jahr hinaus mit anhaltenden Symptomen der Übererregung, überwältigenden Erinnerungen und Entlastungssymptomen. Neben der Idee der Vulnerabilität des Subjektes gilt also auch, dass das Leben voller prägender Erfahrungen ist. Manche davon sind schwierig oder bitter, aber Menschen sind durchaus als belastbar (und nicht nur als belastet) zu denken und es kann im Sinne von Resilienz auch ein gelingender Umgang damit gefunden werden. Hier kann sonderpädagogische Diagnostik und Arbeit einen wertvollen Beitrag leisten. |
Diagnostische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Theorie | - Gibt es ein Wissen über potentiell traumatische Situationen denen der junge Mensch ausgesetzt war (insbesondere alle Formen von Gewalt, Missachtung, Vernachlässigung und Verlust)? - Gibt es ein Wissen über Symptome die zu Traumafolgeerscheinungen passen würden (wichtig und leider auch kompliziert sind bei jungen Menschen auch die atypischen Folgeerscheinungen.)? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - TSC-KJ - TSC-YC - IBS-KJ |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | siehe Traumapädagogik. |
Literatur
Becker, D. (2014). Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Gießen : Psychosozial.
Gauleiter, S. B., Hensel, T., Baierl, M, Kühn, M., Schmid, M., (2014). Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Göttingen: Vandenhoeck .
Kanz, C. (2017). Trauma und Traumfolgen. In W. Bleher & S. Gingelmaier Kinder und Jugendlich nach der Flucht (S. 93 -104). Weinheim: Beltz.
Kühn, M., Bialek, J. (2017). Fremd und kein Zuhause. Traumapädagogische Arbeit mit Flüchtlingskindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht .
Universität Hamburg. (2014). Die Notwendigkeit einer professionellen Traumapädagogik als fester Bestandteil in der sozialen Arbeit. Abgerufen von http://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2015/2879/pdf/WS.SA.BA.ab14.99.pdf
Witt, N (2020). Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen. In: Springmann-Preis, S.: Notsignale aus dem Klassenzimmer. 173-187. Wien, Köln, Weimar, utb.
Zimmermann, D. (2016). Traumapädagogik in der Schule. Pädagogische Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg