Persönlichkeitsstörungen (PS)
Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2022). „Persönlichkeitsstörungen“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:persoenlichkeitsstoerungen, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | In einer großen Meta-Analyse (Volkerts et al., 2018) wurde der Anteil von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen auf 12,6% für die westliche Welt (also auch Deutschland) beziffert. Damit ist jeder achte Mensch in Deutschland von einer PS betroffen. Nach der neuen (in deutscher Sprache noch vorläufigen) 11. Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD 11) werden Persönlichkeitsstörungen wie folgt beschrieben: Eine Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch Probleme in der Funktionsweise von Aspekten des Selbst (z. B. Identität, Selbstwert, Genauigkeit der Selbsteinschätzung, Selbststeuerung) und/oder zwischenmenschliche Störungen (z. B. die Fähigkeit, enge und für beide Seiten befriedigende Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die Fähigkeit, die Sichtweise anderer zu verstehen und mit Konflikten in Beziehungen umzugehen), die über einen längeren Zeitraum (z. B. zwei Jahre oder länger) bestehen. Die Störung äußert sich in maladaptiven (z. B. unflexiblen oder schlecht regulierten) Mustern der Kognition, des emotionalen Erlebens, des emotionalen Ausdrucks und des Verhaltens und zeigt sich in einer Reihe von persönlichen und sozialen Situationen (d. h. sie ist nicht auf bestimmte Beziehungen oder soziale Rollen beschränkt). Die Verhaltensmuster, die die Störung charakterisieren, sind entwicklungsmäßig nicht angemessen und können nicht in erster Linie durch soziale oder kulturelle Faktoren, einschließlich sozialpolitischer Konflikte, erklärt werden. Die Störung ist mit erheblichem Stress oder einer signifikanten Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden. (www.bfarm.de) Die PS können leicht, mittelschwer und schwer ausgeprägt sein. Es werden nach der ICD 11 verschiedene Merkmalsbereiche (negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Anarkasmus/Starrheit, Borderline-Muster) zur Beschreibung der jeweiligen PS herangezogen. |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Wie aus der ICD-11 Beschreibung deutlich wird, haben PS massiven Einfluss auf Verhalten, Emotionalität und Erleben der betroffenen Personen. Es gibt mittlerweile ausreichend Evidenz, dass sich die Störungssymptome einer PS schon in Kindheit und Adoleszenz zeigen und somit ein durchgehender Entwicklungsverlauf zu beobachten ist (vgl. Schmeck et al., 2012). War in der ICD 10 die Diagnose erst ab 16 Jahren möglich, so ist dies in der ICD 11 aufgehoben (Schmeck & Birkhölzer, 2021.) Bereits aufkommende Persönlichkeits(entwicklungs)störungen bzw. von Persönlichkeitsstörung betroffene Systeme können bei gravierendem und langanhaltenden Verhaltensproblematiken von Kindern und Jugendlichen eine große Rolle spielen. |
Grenzen | Die Diagnose von PS wird allein psychiatrisch bzw. psychotherapeutisch gestellt. Die Diagnosestellung ist komplex und nicht unkompliziert bzw. mehrdeutig. Obwohl PS in der Gesamtbevölkerung häufig vorkommen, sollte die Diagnose niemals leichtfertig vergeben werden, da sie mit nicht unerheblichen Stigmatisierungseffekten verbunden sein kann. Diese entstehen insbesondere aus dem hohen Maß an Verknüpfung von Pathologie und Persönlichkeit. Die potenzielle Gefahr einer Stigmatisierung erhöht sich, da das auf Dauer angelegte Stabilitätskriterium der ICD 10 in der ICD 11 auf eine symptomatische Mindestdauer von zwei Jahren verkürzt wurde. Durch die gebotene Vorsicht gibt es gute Argumente, besser von Persönlichkeitsentwicklungsstörungen zu sprechen. |
Diagnostische Fragen im Zusammenhang mit der Theorie | - Liegt eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung vor? - Wie lange liegt die Diagnose zurück? Sind die diagnose-relevanten Merkmale im gezeigten Verhalten noch konsistent? - Wie kann in der Netzwerkarbeit mit dem klinischen Bereich und der Jugendhilfe (Stichwort Intensivpädagogik) an förderlichen Entwicklungen des jungen Menschen und seines Umfeldes gearbeitet werden? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - Die Diagnosestellung erfolgt über die (Kinder- und Jugend-)Psychiatrie (ambulant, stationär, niedergelassen), die Kinder- und Jugendpsychotherapie bzw. die Psychologische Psychotherapie (niedergelassen). - Ein multimodales diagnostisches Vorgehen im Sinne der Kind-Umfeldanalyse und im Sinne eines kompetenten Helfersystems ist von entscheidender Bedeutung. |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Akute und längerfristige Interventionen Akute und längerfristige Interventionen sollten folgende Qualitätsmerkmale aufweisen: - ressourcenorientiert - stabilisierend - mentalisierend - haltend/ grenzsetzend - nicht-strafend - bindungs- und traumasensibel Formelle Trainings Es wäre dringend notwendig, das Feld der PS stärker in die (Sonder-)Pädagogik einzubeziehen. Aktuell liegt dazu allerdings kaum Literatur vor, formelle Trainings existieren bis dato im engeren Sinn noch nicht. |
Literatur
Abgerufen am 10.05.2022 unter https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html;jsessionid=503ADB1826FC201EA294FE99E0782D39.internet281
Schmeck, K., Schlüter-Müller, S., Resch, F. (2012). Persönlichkeitsstörungen. In: Fegert, J.M., Eggers, C., Resch, F. (eds) Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-19846-5_25.
Schmeck, K. & Birkhölzer, M. (2021). Die Konzeption von Persönlichkeitsstörungen in der ICD-11. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 49:6, 480-485.
Volkert, J., Gablonski, T.C., & Rabung, S. (2018). Prevalence of personality disorders in the general adult population in Western countries: systematic review and meta-analysis. Brit J Psychiatry 2018; 213: 709–15.
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