Bindung als besondere Beziehung
Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2021). „Bindung als besondere Beziehung“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:wsd:verhalten:theorien_verhalten:beziehung_bindung, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Beziehungen sind als zwischenmenschliche und intraindividuelle Austausch- und Repräsentanzphänomene zu verstehen (Gingelmaier, 2016). Denken, Fühlen und Handeln werden in sehr unterschiedlicher Intensität, Form und kulturell geprägt zwischen Menschen aufeinander bezogen und über alle „Kommunikationskanäle“ ausgetauscht. Es handelt sich also vor allem um affektive Resonanzphänomene, die im Austausch mit bedeutsamen Anderen entstehen und die als Selbst- oder Objektrepräsentanzen in das Innere wirken und nach außen direkt ins Verhaltens spielen. Intensive frühe Beziehungen werden nach J. Bowlby als Bindungen bezeichnet und im ersten Lebensjahr interaktionell ausgebildet. Das Bindungssystem stellt dabei ein primäres, genetisch bedingtes motivationales System dar. Es wird, biologisch präformiert, zwischen dem Säugling und seiner Bezugsperson aktiviert und dient dem Säugling dadurch als Überlebenssicherung (vgl. Brisch 2009). Das Bindungs- und das Explorationssystem haben eine sich gegenseitig hemmende Funktion. Falls dem explorativen Lernen ein zu hohes Angst-, Stress- und Unsicherheitslevel gegenübersteht, wird eine Bindungsperson adressiert. Dieses Phänomen ist insbesondere dann beobachtbar, wenn Angst und Stress nicht mehr selbst reguliert werden können. Die Art und Weise, wie interaktionell darauf längerfristig reagiert wird, kann das sogenannte „innere Arbeitsmodell“ und damit den Beziehungsaufbau und die -gestaltung stark prägen. „In der ganz frühen Entwicklung handelt es sich um die Regulation von Affekten, so genannten Affektattunements. Sie führen dazu, dass in dem Kind ein ‚Wissen‘ darüber entsteht, wie mit bestimmten inneren Zuständen umgegangen wurde, beispielsweise mit Angst, Wut oder anderen Affekten […]. Dieses Wissen wird als ‚implizites Beziehungswissen‘ gespeichert und bleibt ein Leben lang unbewusst“ (Ahrbeck 2010, 139–140). Sie entwickeln sich häufig zu lebenslang prägenden Beziehungsmustern und wirken durch ihre psychische Repräsentanz auch in neue Beziehungen hinein. Aus der Bindungstheorie konnten u.a. durch M. Ainsworth vier grundlegende Bindungsmuster empirisch gewonnen werden (nach Howe, 2015): - Unsicher-vermeidendes Muster: Das Selbst fühlt sich ungeliebt und will sich nicht abhängig machen,. Andere Menschen werden zurückgewiesen, Unabhängigkeit wird demonstriert. - Sicheres Muster: Das Selbst fühlt sich geliebt, sicher und handlungsfähig. Andere Menschen werden i.d.R. als verfügbar, kooperativ und zuverlässig wahrgenommen. - Unsicher-ambivalentes Muster: Das Selbst fühlt sich abhängig. Ein geringer Selbstwert geht mit bedingter Handlungsfähigkeit einher. Andere Menschen werden als unsensibel, unbeständig, unberechenbar und unzuverlässig wahrgenommen. - Desorganisiert: Das Selbst fühlt sich ungeliebt, allein, ängstlich und bedroht. Andere Menschen sind angsteinflößend, zurückweisend, nicht verfügbar, wirken bedrohlich und müssen kontrolliert werden. |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Pädagogische Arbeit, die die emotionale und soziale Entwicklung aus gutem Grund prominent einbezieht, muss Beziehung als Trägerin der kindlichen Entwicklung im pädagogischen Prozess mitdenken – und zwar je jünger und belasteter die Kinder und Jugendlichen sind, um so mehr. Die aus der Bindungstheorie stammenden Bindungsmuster werden teilweise als anthropologische Konstante gesehen, die in einer der vier Formen bei jedem Menschen insbesondere unter Stress auftreten und Beziehungen (z.B. zu pädagogischem Personal, Peers , usw.) über das innere Arbeitsmodell stark beeinflussen. Dabei ist es wichtig zu sagen, dass die sichere und die beiden unsicheren Bindungsmuster eine bestimmte Strategie verfolgen. Fürsorgespersonen sollen insbesondere in Stress situationen dazu gebracht werden sollen, stress- und angstreduzierende Formen der emotionalen Sicherheit zu vermitteln. Kinder und Jugendliche, die ein desorganisiertes Bindungsmuster aufweisen, haben überzufällig häufig schwere aversive Erfahrungen in der (frühen) Kindheit gesammelt (z.B. Kindeswohlgefährdung). Es mangelt an einheitlichen und zielführenden Strategien, wie sie in Beziehung treten und solche führen können. Bei desorganisierter Bindung liegt ein hohes Maß an Stress vor, das aufgrund von inneren oder äußeren Reizen (Trigger) leicht eskaliert. Die inneren Arbeitsmodelle von kleineren Kindern mit desorganisierter Bindung reagieren dabei oft mit wechselnden, mitunter beliebigen Bindungsstrategien, was zum Beispiel mit einem hohen Maß an Unruhe verbunden ist. Jugendliche versuchen Situationen und soziale Situationen eher zu kontrollieren und zu manipulieren, weil sie sich so selbstwirksam erleben und ihre ursprüngliche Opferrolle überdecken. Gewaltausbrüche und -anwendungen bzw. Depression bis hin zur Suizidalität können ebenfalls eng mit Desorganisation assoziiert sein. Tatsächlich zeigt die neuere Forschung, dass sowohl pädagogische Fachkräfte wie auch Peers (insbesondere in der Adoleszenz) zumindest kurzfristig Bindungspersonen sein können. |
Grenzen | Keller (2019) weist deutlich darauf hin, dass die Bindungstheorie insbesondere wegen ihres Universalitätsanspruchs eine sehr starke euro-nordamerikano-zentristische Schieflage aufweist. Die vier Bindungsmuster sind so längst nicht auf alle Kulturen übertragbar. Außerdem bestätigt die neuere empirische Bindungsforschung (z.B. Granqvist et al. 2017), dass die Bindungsorganisation sich im Laufe eines Lebens durchaus verändert und dass nicht nur die frühen Bezugspersonen Einfluss auf das innere Arbeitsmodell nehmen können. Insbesondere bei Kindern, die desorganisierte Verhaltensweisen zeigen, muss vor zu schnellen Festlegungen und Stigmatisierungen gewarnt werden. |
Diagnostische Fragen im Zusammenhang mit der Theorie | - Wer sind die Bindungspersonen der Kinder und Jugendlichen? - Was ist über die frühen und späteren Bindungs- und Beziehungserfahrungen der Kindern und Jugendlichen bekannt? - Wie reagiert der junge Mensch auf Stress und Angst? Reagiert das Umfeld dominant? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - Geschichtenergänzungsverfahren (GEVB- 5-8) - Familiensystemtest |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | - Akute Interventionen: s. Beziehungspädagogik - Längerfristige Interventionen: s. Beziehungspädagogik - Formelle Trainings: B.A.S.E https://www.khbrisch.de/fortbildungen/base.html |
Literatur
Ahrbeck, B. (2010): Innenwelt: Störung der Person und ihrer Beziehungen. In: Ahrbeck, B. / Willmann, M. (Hrsg.): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer, 138–147.
Howe, D. (2015). Bindung über die Lebensspanne. Grundlagen und Konzepte der Bindungstheorie. Paderborn: Junfermann.
Granqvist, P.; Sroufe, L. A.; Dozier, M.; Hesse, E ; Duschinsky, R, & Steele, M, (2017). Disorganized attachment in infancy: A review of the phenomenon and its implications for clinicians and policy-makers. Attachment & Human Development. 10.17863/CAM.11313.
Keller, H. (2019). Mythos Bindungstheorie. Kiliansroda: verlag das netz.
Langer, J (2018) Bindung in der Schule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg