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Causal Agency-Theorie
Zitiervorschlag: Gromer, B., Geurds, P. (2025). „Causal Agency-Theorie.“ Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:selbststaendiges_leben:theorien:selbstbestimmung
Die „Causal Agency-Theorie“ (Theorie kausaler Handlungsfähigkeit) versucht zu erklären, wie sich Selbstbestimmung entwickelt und wie Menschen selbstbestimmt handeln lernen. Selbstbestimmung wird als entwickelbare Kompetenz verstanden, nicht als festes Persönlichkeitsmerkmal.
Kausale Handlungsfähigkeit (Causal Agency) bezeichnet die Fähigkeit und das Bewusstsein eines Menschen, eigene Ziele zu setzen, Entscheidungen zu treffen und durch eigenes sowie kooperatives Handeln Veränderungen in der eigenen Lebenssituation herbeizuführen. Kausale Handlungsfähigkeit beschreibt die Möglichkeit, aktiv und absichtsvoll im eigenen Leben zu agieren. Diese Fähigkeit ist ein zentrales Element der Selbstbestimmung und bedeutsam für die Persönlichkeitsentwicklung sowie für die aktive gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Shogren/ Raley 2025, 35ff./ Wehmeyer 2022, 56f.)
Selbstbestimmung wird als ein sich über die gesamte Lebenspanne hinweg weiterentwickelnder Prozess verstanden, der immer in einem Spannungsfeld mit Fremdbestimmung und bestehenden Abhängigkeiten steht. Daher bedeutet Selbstbestimmung in der Causal Agency-Theorie nicht, möglichst unabhängig und selbstständig zu handeln oder absolute Kontrolle über den gesamten Prozess zu haben. Selbstbestimmte Menschen im Sinne der Causal Agency-Theorie haben die Möglichkeit eine Vision für die eigene persönliche Zukunft zu entwickeln und können die eigenen Fähigkeiten sowie die Ressourcen ihrer Umwelt nutzen, um Kontexte zu verändern und bestehende Barrieren abzubauen, um die angestrebten Ziele zu erreichen (vgl. Shogren/ Raley 2025, 35ff.)
Zitiervorschlag: Grafik „Causal Agency-Theorie“ von Gromer, B. (2025) in Anlehnung an Shogren & Raley (2025, 38). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:selbststaendiges_leben:theorien:selbstbestimmung, CC BY-SA 4.0
1. Psychologische Grundbedürfnisse
Die der Causal Agency-Theorie zu Grunde gelegten psychologischen Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz und Soziale Eingebundenheit beziehen sich auf die von RYAN & DECI (2008, 2017) entwickelte Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, SDT).
Autonomie (Autonomy): Beschreibt das Bedürfnis, eigene Entscheidungen treffen zu können und das eigene Handeln als selbstbestimmt zu erleben. Hierzu gehört auch die Annahme von fremdbestimmten Entscheidungen, wenn diese als begründet, nachvollziehbar, angemessen und sinnvoll erlebt werden.
Kompetenz (Competence): Meint das Bedürfnis Herausforderungen zu meistern, die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und sich in diesem Zusammenhang als selbstwirksam zu erleben.
Soziale Eingebundenheit (Relatedness): Umfasst das eigene Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Verbundenheit und wertschätzenden Beziehungen zu anderen Menschen sowie die Bedeutung, die man selbst für andere Personen hat. Unter sozialer Eingebundenheit wird daher immer ein wechselseitigen Prozess verstanden.
Diese drei Grundbedürfnisse sind empirisch gesichert und haben kulturübergreifende Gültigkeit. Werden sie erfüllt, steigt die intrinsische bzw. autonome Motivation, das eigene Wohlbefinden und die Leistungsbereitschaft. Bleiben sie dauerhaft unberücksichtigt, kann dies zu Demotivation, Stress oder Passivität führen.
Autonome Motivation kennzeichnet, dass eine Person aus eigenem Antrieb und auf Grundlage persönlicher Ziele, Interessen und Werte handelt.
Konkret bedeutet dies:
- Die Motivation ist intrinsisch.
- Die Person erlebt sich als Verursacher (Agent) ihres Handelns.
- Entscheidungen, Handlungen und Ziele sind selbstgewählt und werden als bedeutsam für das eigene Leben erachtet.
2. Selbstbestimmtes Handeln
Selbstbestimmtes Handeln ist ein zentrales Element der Causal Agency-Theorie. Es entsteht, wenn Menschen sich als „Verursacher“ (causal agents) ihres eigenen Handelns erleben und sich als aktive Gestalter ihres Lebens erfahren, nicht als passive Empfänger äußerer Umstände. Es werden drei Aspekte selbstbestimmten Handeln unterschieden (vgl. Shogren/ Raley 2025, 45ff./ Wehmeyer 2022, 56f.):
Volitionale Handlung (Decide): Selbstbestimmte Menschen handeln aus eigenem Antrieb und ihre Entscheidungen basieren auf bewussten und persönlichen Vorlieben, Werten, Wünschen und Überzeugungen.
Beispielhafte Fähigkeiten und Fertigkeiten für das willentliche Handeln sind:
- Fähigkeiten zur Auswahlentscheidung
- Zielsetzungsfähigkeiten
- Problemlösungsfähigkeiten
- Planungsfähigkeiten
Agentische Handlung (Act): Selbstbestimmte Menschen handeln zielgerichtet und nutzen ihre Fähigkeiten, um Veränderungen zu bewirken und Ziele zu erreichen. Es werden verschiedene Wege (Pathways) herausgearbeitet, die zum gewünschten Ziel führen können.
Beispielhafte Fähigkeiten und Fertigkeiten für selbstreguliertes und selbstgesteuertes Handeln sind:
- Initiative
- Selbstregulations-/Selbstmanagementfähigkeiten (Selbsteinschätzung)
- Zielerreichungsfähigkeiten
- Problemlösungsfähigkeiten
- Selbstvertretungsfähigkeiten
Handlungssteuernde Überzeugungen (Believe): Selbstbestimmte Menschen glauben an ihre Fähigkeit, ihre Ziele zu erreichen (Kontrollüberzeugung), an ihre eigenen Fähigkeiten (Fähigkeitsglauben) und daran, dass ihre Handlungen zu den gewünschten Ergebnissen führen (Kausalitätsglauben).
Beispielhafte Fähigkeiten und Fertigkeiten für Handlungssteuernde Überzeugungen sind:
- Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung
- Selbstkenntnis
- Selbstwirksamkeitserwartung
3. Kontext
Die Causal Agency-Theorie betont, dass kausale Handlungsfähigkeit (causal agency) nicht nur von inneren Faktoren wie Motivation oder individuellen Fähigkeiten abhängt, sondern in besonders hohem Maße davon, ob der Kontext Zugänge und Gelegenheiten zur Selbstbestimmung bereitstellt und diese förderlich unterstützt. Der Kontext umfasst die sozialen, kulturellen, institutionellen und physischen Umgebungen, in denen ein Individuum lebt. Diese Bedingungen beeinflussen, ob und wie Menschen als Verursacher ihrer eigenen Handlungen auftreten können, sich als selbstwirksam und als Akteur im eigenen Leben erfahren können.
Der Kontext dient hierbei auch als Lernumfeld, in dem Menschen Erfahrungen mit Zielsetzung, Entscheidungsfindungen und Eigenverantwortung machen können. Diese Erfahrungen sind wesentlich für die Entwicklung einer kausalen Handlungsfähigkeit als Teil der Selbstbestimmung (vgl. Shogren/ Raley 2025, 38; 65ff.).
Bedeutung der Causal Agency-Theorie für die sonderpädagogische Praxis
1. Selbstbestimmung als zentrales Bildungsziel
- Die Causal Agency-Theorie bietet ein wissenschaftlich fundiertes Rahmenmodell, um Selbstbestimmung als entwickelbare Kompetenz zu fördern – nicht als festes Persönlichkeitsmerkmal.
- Sie lenkt den Fokus darauf, individuelle Bildungsprozesse entlang von Entscheidungsfähigkeit, Zielorientierung und Selbstwirksamkeit zu gestalten.
2. Ermöglichung aktiver Partizipation
- Selbstbestimmtes Handeln ist die Voraussetzung für gesellschaftliche, schulische und berufliche Partizipation.
- Menschen mit Behinderungen sollen aktiv beteiligt und als handelnde Subjekte anerkannt werden.
3. Handlungskompetenz statt Fürsorgehaltung
- Die Causal Agency-Theorie unterstützt den Paradigmenwechsel von der Fremdbestimmung hin zur Förderung von Handlungsfähigkeit (agency).
- Pädagog:innen reflektieren dabei die eigene Rolle: Unterstützer:innen statt Entscheider:innen.
4. Didaktisch-methodische Orientierung
Die Causal Agency-Theorie bietet konkrete Anhaltspunkte zur Gestaltung von Lernumgebungen:
- Wahlmöglichkeiten schaffen und Entscheidungsfähigkeit entwickeln
- individuelle Zielsetzung finden und begleiten
- selbstgesteuertes Lernen ermöglichen
- selbstständige und selbstbestimmte Handlungsräume erweitern trotz Assistenzbedarf
- Veränderung bestehender Barrieren
5. Rechtliche und inklusive Perspektive
- Die Theorie steht im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere Artikel 24 (Bildung) und Artikel 12 (Gleiche Anerkennung vor dem Recht).
- Sie unterstreicht das Recht jedes Menschen, über das eigene Leben mitzuentscheiden – auch im schulischen Kontext.
Literatur
Ryan, R.M. & Deci, E.L. (2008). Self-Determination Theory: A Macrotheory of Human Motivation, Development, and Health. In: Canadian Psychology 49, 182–185.
Ryan, R.M. & Deci, E.L. (2017). Self-Determination Theory: Basic Psychological Needs in Motivation, Development, and Wellness. New York: The Guilford Press.
Shogren, K.A. & Raley, S.K. (2025). Selbstbestimmung und Causal Agency-Theorie. Von der Forschung in die Praxis. Heidelberg: Springer.
Wehmeyer, M.L. (2022). Lebensqualität und Selbstbestimmung. In: Zentel, P. Lebensqualität und geistige Behinderung. Theorien, Diagnostik, Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer, 55-61.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg