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Theorien und Modelle zu Raum und Form
Zitiervorschlag: Kopp, S., Stecher, M. (2021). „Theorien und Modelle zu Raum und Form.“ Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:mathematik:raum_form
Wir sind in unserer Umwelt von geometrischen Formen umgeben und vollziehen eine Vielzahl geometrischer Handlungen im Alltag (Entfernungen abschätzen, Wege beschreiben usw.). Somit sind räumliche Fähigkeiten zum einen bedeutsam, um sich die Umwelt zu erschließen und sich in ihr sicher zu bewegen. Zum anderen unterstützt das räumliche Denken auch wesentlich die Entwicklung von frühen mathematischen Kompetenzen (vgl. Benz et al 2015). Darüber hinaus kann das räumliche Denken das Ausbilden mentaler Vorstellungsbilder erleichtern und den Umgang mit anschaulichen Materialien und Modellen unterstützen.
Grundlegende Theorien
Für eine umfassende Beschreibung der Entwicklung im Bereich Raum und Form werden in WSD die Theorie Piagets zur Entwicklung räumlicher Vorstellungen sowie das Modell von van Hiele zum Verständnis geometrischer Begriffe (vgl. Franke & Reinbold 2016) herangezogen.
Entwicklung räumlicher Vorstellungen (nach Piaget)
Piaget geht davon aus, dass der Erwerb räumlicher Fähigkeiten mit der allgemeinen Denkentwicklung korrespondiert. Nach Piaget entwickelt sich das räumliche Denken in Entwicklungsstufen. Dabei stellt für Piaget die räumliche Vorstellung eine verinnerlichte Handlung dar (vgl. Franke & Reinbold 2016).
Sensomotorisches Stadium Geburt bis 2 Jahre | Erstes Erkunden |
Präoperationales Stadium ca. 2 Jahre bis 7 Jahre | Topologische Beziehungen |
Konkret-operationales Stadium ca. 7 Jahre bis 11 Jahre | Projektive Beziehungen und später euklidische Beziehungen |
Formal-operationales Stadium ca. 11 Jahre bis 16 Jahre | Analyse komplexer euklidischer und multipler projektiver Beziehungen |
Modell zum Verständnis geometrischer Begriffe (nach van Hiele)
Van Hiele unterscheidet in seinem Modell zum Verständnis geometrischer Begriffe folgende fünf Niveaustufen (vgl. Franke & Reinbold 2016):
- Räumlich-anschauungsgebundenes Denken
- Analysierend-beschreibendes Denken
- Abstrahierend-relationales Denken
- Schlussfolgerndes Denken
- Strenges abstrakt-metamathematisches Denken
Aufgrund des hohen Abstraktionsniveaus der Stufen vier und fünf werden in WSD lediglich die ersten drei Stufen in den Blick genommen werden.
Die Theorien Piagets und van Hieles werden in folgendem, aus drei Kompetenzebenen bestehenden Entwicklungsmodell zusammengefasst.
Kompetenzebenen im Bereich Raum und Form
Zitiervorschlag: Grafik „Kompetenzebenen im Bereich Raum und Form“ von Kopp, S., Stecher, M., Gromer, B. & Albrecht, C. (2022). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:mathematik:raum_form#kompetenzebenen_im_bereich_raum_und_form, CC BY-SA 4.0
Kompetenzebene I: Basales Verständnis von Raum und Form
Bezugspunkt für die Kompetenzebene I ist das in der Theorie Piagets beschriebene sensomotorische Stadium. Die Kompetenzebene I bildet die Grundlage für die Entwicklung räumlicher Vorstellung (vgl. Franke & Reinbold 2016). Ausgangspunkt für die Entwicklung der räumlichen Vorstellung stellt dabei die Erkundung des eigenen Subjekts dar. Vom Nahraum ausgehend erkundet das Kind den Fernraum und entwickelt erste Relationen zu sich und der Umwelt und dann zwischen den Objekten. Dafür erkundet das Kind zunächst seinen eigenen Körper, operiert dann mit realen Objekten und verinnerlicht die Eigenschaften der Objekte und die Beziehungen der Objekte zueinander.
Kompetenzebene II: Geometrisch-räumliches Verständnis von Raum und Form
Die Kompetenzebene II gliedert sich in Anlehnung an van Hiele in die beiden Teilbereiche räumlich-anschauungsgebundenes Denken und analysierend-beschreibendes Denken.
Räumlich-anschauungsgebundenes Denken
Auf diese Ebene erfassen Kinder Objekte ganzheitlich. Sie können sie benennen, aber es gelingt ihnen noch nicht, die Objekte anhand von Eigenschaften zu beschreiben. Sie lernen die passenden geometrischen Bezeichnungen für die Objekte und können diese umsetzen. Die Beziehungen der Objekte zueinander erkennen die Kinder noch nicht. Diese Ebene kennzeichnet den Übergang von den sensomotorischen Kompetenzen hin zu ersten Einsichten in topologische Beziehungen.
Analysierend-beschreibendes Denken
Jetzt können die Kinder geometrische Objekte analysieren, indem sie erstmals die geometrischen Eigenschaften der Objekte wahrnehmen. Hierbei gelingt es ihnen durch Handlungserfahrungen und genaues Betrachten diese Eigenschaften zu beschreiben und erste Klassifikationen vorzunehmen. Die Beschreibungen der Eigenschaften oder erster Besonderheiten erfolgt auf dieser Stufe noch informell. Klasseninklusionen (z.B. alle Vierecke gehören zur Klasse der Parallelogramme) werden noch nicht erkannt. Ab dieser Stufe gelingt es den Kindern auch erste projektive Beziehungen zu analysieren und somit gedanklich verschiedene Perspektiven einzunehmen. Ebenso beginnen sie nun Richtungen und Ordnungsrelationen (z.B. Vergleichen von Figuren anhand von Merkmalen) erfassen.
Kompetenzebene III: Geometrisch-mathematisches Verständnis von Raum und Form
Die Kompetenzebene III gliedert sich in Anlehnung an van Hiele in die beiden Teilbereiche abstrahierend-relationales Denken und schlussfolgerndes Denken.
Abstrahierend-relationales Denken
Die Kinder stellen auf dieser Kompetenzebene Beziehungen zwischen den Eigenschaften einer Figur und verwandter Figuren fest. Geometrische Eigenschaften, die erfasst und beschrieben werden, sind vor allem auf die Form und die Symmetrie bezogen. Sie haben nun neben der Klassifikation auch die Klasseninklusion verstanden (z. B. Zuordnung von bestimmten geometrischen Formen in das „Haus der Vierecke“). Die Kinder können jetzt unter Verwendung erster geometrischer Bezeichnungen definieren, argumentieren und Schlüsse ziehen. Sie analysieren nun auch komplexere projektive Beziehungen und beziehen dabei auch metrische Aspekte (bspw. Verwendung von Längenmaßen) mit ein.
Schlussfolgerndes Denken
Die auf der vorherigen Ebene erworbenen Fähigkeiten nutzen die Kinder jetzt, um geometrische Theorien zu entdecken und zu verstehen. Sie können nun Beweise nachvollziehen, auf andere Sachverhalte übertragen und Selbstbeweise führen. Geometrische Axiome, Sätze und Definitionen werden als bedeutsam erkannt und angewandt.
Literatur
Benz, C. & Peter-Koop, A. et al (2015). Frühe mathematische Bildung: Mathematiklernen der Drei- bis Achtjährigen. Berlin: Springer Spektrum
Franke, M. & Reinbold, S. (2016). Didaktik der Geometrie in der Grundschule. Berlin: Springer Spektrum
Hasemann, K. & Gasteiger, H. (2014). Anfangsunterricht Mathematik. Berlin: Springer Spektrum
Selter, C. & Zannetin, E. (2018). Mathematikunterricht in der Grundschule. Seelze: Klett Kallmeyer
Werner, B. (2009). Dyskalkulie – Rechenschwierigkeiten: Diagnose und Förderung rechenschwacher Kinder an Grund- und Sonderschulen. Stuttgart: Kohlhammer
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg