Inhaltsverzeichnis
Theorie zum Lesen und Schreiben von Braille (taktiles Lesen)
Das System der deutschen Braille-Punktschrift
Sämtliche der heute gebräuchlichen Punktschriftsysteme basieren auf der Grundlage der von Louis Braille (1809-1852) entwickelten Punktschrift. Das Grundmuster der Punktschrift besteht aus frei kombinierbaren Punkten innerhalb einer 6-(8- ) Punktematrix, der sogenannten Braillezelle.
In Deutschland werden als Lese- bzw. Schreibschriften die Vollschrift, Kurzschrift und Eurobraille (Computerbraille) verwendet.
Die Vollschrift basiert auf einer 6-Punkte-Matrix, innerhalb derer durch unterschiedliche Punktkombinationen bis zu 64 Zeichen dargestellt werden können. Die Großschreibung erfolgt hier durch ein Ankündigungszeichen, das vor den entsprechenden Buchstaben gestellt wird, so dass die Buchstabenzeichen selbst ausschließlich Kleinbuchstaben darstellen. Für häufige Buchstabenkombinationen (au, eu, ie, ei, sch, ch, ck, st) wird ein Buchstabenzeichen verwendet. Ebenso gibt es Punktkombinationen für Satzzeichen.
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Albrecht, C. (2016). 6-Punkt-Braillezelle mit Punktnummerierung
In der deutschen Blindenkurzschrift wird durch die Verwendung von Punktkombinationen bzw. Zeichenkombinationen für gesamte Silben oder Wörter eine Reduktion des Umfangs gedruckter Brailleschrift erreicht. Die Kurzschrift umfasst etwa 300 Kürzungen, die in einem komplexen Regelwerk zusammengefasst sind.
Im Schriftsystem Eurobraille basieren sämtliche Zeichen auf einer Braillezelle aus 8 Punkten. Durch diese Erweiterung der ursprünglichen Braillezelle können insgesamt 256 Punktkombinationen erreicht werden, was die Darstellung des ASCII-Zeichensatzes ermöglicht. Im Schriftsystem Eurobraille können Groß- und Kleinbuchstaben durch jeweils ein Einzelzeichen dargestellt werden, hierbei wird die Schreibung der Kleinbuchstaben aus der Braille-Vollschrift weitgehend übernommen. Die Kürzung von Buchstabenkombinationen und der Gebrauch von Ankündigungszeichen entfällt in Eurobraille.
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Albrecht, C. (2016). 8-Punkt-Braillezelle mit Punktnummerierung
Siehe auch: http://www.bskdl.org/braillesysteme.html
Lesen von Brailleschrift
Der Leseprozess von Brailleschrift erfolgt weitgehend analog des Leseprozesses von Schwarzschrift, ein Unterschied besteht hauptsächlich in der Wahrnehmung der Buchstaben – je nach Schriftsystem auch im Bereich des orthographischen Lesens.
Das taktile Lesen erfolgt nicht durch die Analyse eines geschriebenen Buchstabens oder Wortes über einen visuellen Eindruck, sondern über einen Tasteindruck. Die Brailleschrift wird mit den Fingerkuppen gelesen und ist somit abhängig von der Wahrnehmung in den Fingerkuppen. Meist wird zur Identifikation einzelner Buchstaben der Zeigefinger verwendet, beim Leseprozess geübter Braille-Leser sind auch weitere Finger beteiligt. Das Lesen erfolgt in der Regel beidhändig, dabei wird eine Hand als dominante Lesehand verwendet. Die Lesebewegungen geübter Punktschriftleser zeichnen sich durch folgende Faktoren aus:
- unabhängiger Gebrauch der Hände (z.B. für Zeilenwechsel, Erkennen von Lücken, …)
- sicherer Zeilenwechsel
- geringer Auflagedruck der Lesefinger
- fließender Bewegungsablauf in horizontaler links-rechts-Bewegung
Das Lesen auf Papier unterscheidet sich im Wesentlichen nicht vom Lesen auf einer Braillezeile. Da auf der Braillezeile nur jeweils eine Zeile des Textes ausgegeben wird, muss der Zeilenwechsel über eine Taste ausgeführt werden.
Brailleleserinnen und –leser erzielen durchschnittliche Lesegeschwindigkeiten von 100-150 Wörtern pro Minute, dies entspricht etwa der Hälfte bis einem Drittel der Lesegeschwindigkeit des visuellen Lesens. Ein überfliegendes Lesen ist nicht möglich.
Übertrag des Zwei-Wege-Modells nach Coltheart auf das taktile Lesen
(vgl. Lesen und Schreiben von Schwarzschrift)
Auch beim taktilen Lesen kann davon ausgegangen werden, dass sowohl eine phonologische Route, die Aufnahme einzelner Punktschriftzeichen und eine darauffolgende Graphem-Phonem-Zuordnung , als auch eine lexikalische Route für das Lesen von Wörtern Verwendung findet.
Zunächst erfolgt beim Braille-Lesen die taktile Identifikation der einzelnen Schriftzeichen. Da die Brailleschrift im Gegensatz zur Schwarzschrift nur über ein Kriterium der Buchstabenunterscheidung (Vorhandensein bzw. Fehlen taktiler Punkte innerhalb der Braillezelle) verfügt, muss ein Braillebuchstabe vollständig erfasst werden.
Bei der Identifikation einzelner Punktschriftzeichen unterscheiden sich geübte von ungeübten Lesern. Leseanfänger identifizieren das Braille-Zeichen über die texturale Information (dh. die Punktdichte der Braillezelle), während geübte Leser den Buchstaben anhand der räumlichen Struktur des Zeichens identifizieren.
Durch die Bewegung der Finger über die Schrift entsteht ein charakteristisches Punkt-Lücke-Muster eines Wortes, so dass darüber auch das Lesen von Sinneinheiten im Verständnis der lexikalischen Route (Zuordnung eines bekannten Wortes zum orthographischen und phonologischem Lexikon) stattfindet.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Analyse sowohl der Schubmuster, als auch der Braillezelle ist ein externaler Referenzrahmen in Bezug auf die Raumlage. Hierfür spielt die Sitzposition und die Körperhaltung sowie die horizontale Fingerbewegung eine Rolle.
Schreiben von Brailleschrift
Das Schreiben von Brailleschrift erfolgt an einer Punktschriftmaschine, einer Braille-Eingabetastatur für den PC oder an einer regulären Schwarzschrift-Tastatur am PC. Bei beiden Varianten kann eine hohe Schreibgeschwindigkeit erreicht werden. An Punktschriftschreibmaschinen oder an der Braille-Eingabetastatur werden durch kombiniertes Niederdrücken der Tasten, die jeweils einen Punkt der Braillezelle repräsentieren, Buchstaben geschrieben. An der Schwarzschrifttastatur wird mit Hilfe des 10-Finger-Tastschreibens geschrieben, der Braille-Schreiber erhält über die Braillezeile oder eine Sprachausgabe am PC eine Rückmeldung über das Geschriebene.
Das Schreiben von Brailleschrift unterscheidet sich dahingehend vom Schreiben in Schwarzschrift, dass kein Abschreiben unbekannter Buchstaben möglich ist. Die Schreibung eines Buchstabens wird in Punktkombinationen ausgedrückt. Dies Punktkombinationen können durch Ertasten eines Braillebuchstabens nicht ermittelt werden. Die Punkte sind den Tasten auf der Braille-Eingabetastatur/-Schreibmaschine zugeordnet. Analog dieser Nummerierung werden auch die Finger, die die jeweilige Taste bedienen, entsprechend nummeriert. So kann die Schreibung eines Buchstabens in Form von Punktkombinationen erlernt werden. Ziel ist es, diese Kombinationen im motorischen Gedächtnis zu speichern, so dass beim Schreiben nicht zwingend eine Rückgriff auf die Punktbenennung nötig ist.
Übertrag des Zwei-Wege-Modells des Schreibens nach Barry auf das Schreiben von Braille
Nach aktuellem Forschungsstand kann davon ausgegangen werden, dass der Schreibvorgang von Punktschrift sich von dem in Schwarzschrift ausschließlich im letzten Schritt unterscheidet, der Ausgabe und Speicherung der Grapheme. Wie auch beim Schwarzschrift-Schreiben (siehe Theorie Schwarzschrift) kann das Modell von Barry auch auf die Punktschrift angewandt werden. Nach einer akustisch-auditiven Analyse der Sprache und ggf. einem Rückgriff auf auditives, phonologisches und/oder orthographisches Lexikon erfolgt eine Phonem-Graphem-Umwandlung. Die Speicherung der Schreibung eines Graphems in Punktschrift (Graphembuffer) erfolgt wahrscheinlich weitestgehend im motorischen Gedächtnis, beim Schreiben am PC wird die Position der Zeichen auf der Tastatur räumlich gespeichert.
Lesen und Schreiben am PC: Neben dem Lesen der Punktschrift am PC über die Braillezeile können Buchstaben, Worte und Texte auch in Form einer Sprachausgabe „gelesen“ werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Ausgabe der Buchstaben nicht in Form des Phonems, sondern der Sprechweise im Alphabet (a,be, ze,…) erfolgt, so dass die Verwendung der Sprachausgabe im Rahmen des Schriftspracherwerbs didaktisch-methodisch wohl überlegt erfolgen muss. Die digitale Sprachausgabe ersetzt jedoch nicht das Lesen gedruckter oder auf der Braillezeile ausgegebener Texte, kann aber in Abhängigkeit der Leseaufgabe als arbeitsökonomische Alternative verwendet werden. Das Erlernen des 10-Finger-Tastschreibens ist ein weiterer Schritt im Schriftspracherwerb, ebenso der sichere Gebrauch des PCs mit Hilfe von Shortcuts und Sprachausgabe.
Ein weiterer Aspekt ist der Gebrauch des sogenannten „E-Buch-Standards“. Dokumente im E-Buch-Standard enhalten standardisierte Formate für Texte und Ankündigungen von Tabellen, Bildern etc.. Schulbücher, die vom Landesmedienzentrum für Blinde umgesetzt wurden, sind im E-Buch-Standard verfasst. Analog zum E-Buch-Standard können auch digitale Hefte im E-Buch-Standard geführt werden. (siehe auch: http://augenbit.de/wiki/index.php?title=E-Buch)
Der erweiterte Lesebegriff bei blinden Menschen
Die präliteral-symbolische Stufe lässt sich weiter untergliedern in das Bilderlesen, Lesen von ikonischen Zeichen, Lesen von Symbolen (Euker/Koch; 2010). Überträgt man dem hierbei zugrunde gelegten Zeichenbegriff von Peirce (nach Hoffmann; 2011) auf taktile Bilder, Symbole und ikonische Zeichen, lässt sich folgendes ableiten: Lesen (im erweiterten Sinne) findet statt, wenn einem Zeichen eine übergeordnete Bedeutung entnommen wird. Diese Bedeutung kann aus einer Konvention („Gesetzmäßigkeit“) oder einer Vereinbarung („Gewohnheit“) entstehen.
Bilder lesen:
Ein Zeichen (i.S. von Peirce) kann ein Foto oder ein Gegenstand sein, wenn dies abgelöst vom konkreten Objekt/der konkreten Abbildung einen Begriff, eine Begriffsklasse, eine Situation oder eine Person/Personengruppe (Mädchen, Junge, Baby, Familie…) repräsentiert.
Da blinde Menschen keine Bilder oder Fotos wahrnehmen können, stellt ein Gegenstand, der eine Repräsentationsfunktion hat, die erste Form eines Zeichens dar. Analog des Fotos bei Sehenden ist ein solches Bezugsobjekt eine „Abbildung“ mit größtmöglicher Nähe zu einer Situation, einer Objektklasse oder einer Person.
Foto: Wahl, B.
Lesen von ikonischen Zeichen:
Ein Ikon ist laut Euker/Koch ein Zeichen, das in der Abbildung „gegenstandsähnlich“ ist. Das heißt der Bezug zum repräsentierten Objekt kann vom blinden Menschen durch Tasten über Form, Textur, Elemente des Objekts (z.B. Teil eines Autogurts) etc. hergestellt werden.
Foto: Wahl, B.
Lesen von Symbolen
Ein Symbol hat keine Ähnlichkeit mit dem repräsentierten Objekt und ist willkürlich, durch Konvention oder Vereinbarung festgelegt. Für Sehende Menschen sind Symbole, die durch Konvention festgelegt wurden, z.B. Verkehrszeichen, rote Farbe für warmes Wasser o.Ä., ein durch eine Vereinbarung festgelegtes Symbol kann beispielsweise eine Abbildung für einen Namen (z.B. an der Garderobe) sein. Analog dieser durch Vereinbarung festgelegten Symbole können bei blinden Menschen auch Gegenstände ein Symbol darstellen, wenn sie keine Ähnlichkeit mit der Situation, Person oder mit dem repräsentierten Objekt haben.
Foto: Wahl, B.
Reliefdarstellungen bzw. taktile Umrisszeichnungen sind dahingehend als Symbol zu sehen, da diese Art der Darstellung für einen blinden Menschen keinerlei Ähnlichkeit zum Tasteindruck des dargestellten Objekts herstellt. Der Sinn und Inhalt einer Reliefdarstellung kann von einem blinden Menschen anfangs nur mit Hilfe eines initiierten Lernprozesses (z.B. Aufzeigen der Schrittfolge vom Realobjekt zum Umriss, verbale Begleitung etc.) geleistet werden. Dies bedeutet, dass der Sinngehalt der Darstellung erst durch eine erlernte Interpretation entsteht und somit auf einer Art „Vereinbarung“ der mit dieser Darstellung kommunizierenden Interaktionspartner basiert.
Foto: Wahl, B.
Durch Konvention festgelegte taktile Symbole können einfache geometrische Formen sein, oder auch Brailleschrift und weitere taktile Schriftarten.
Schreiben mit Hilfe von Bildern, ikonischen Zeichen und Symbolen
Analog des Lesens von Bildern, ikonischen Zeichen und Symbolen lässt sich auch das Schreiben mit Hilfe dieser Darstellungsformen beschreiben. Als Vorform des „Kritzelns“ z.B. auf einer Punktschriftmaschine oder auf Zeichenfolie kann das Darstellen von Ereignissen, Personen, Tätigkeiten etc. mit Hilfe von Gegenständen (Bildern), taktilen ikonischen Zeichen oder taktilen Symbolen erfolgen.
Literatur:
Lang, M. (2011). Lesen und Schreiben. In M. Lang, U. Hofer & F. Beyer (Hrsg.), Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Band 2: Fachdidaktiken. (S. 15-54). Stuttgart: Kohlhammer
Lang, M. (2003). Haptische Wahrnehmungsförderung mit blinden Kindern. Möglichkeiten der Hinführung zur Brailleschrift. Regensburg: S. Roderer Verlag