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Gebärdenspracherwerb
Zitiervorschlag: Rauner, R. (2022). „Gebärdenspracherwerb.“ Abgerufen von URL:https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:kommunikation:sprachentwicklung_dgs|, CC BY-SA 4.0
Das Thema Gebärdenspracherwerb kann sich auf verschiedene Bereiche der Sprachforschung beziehen, je nachdem, wer wann, von wem und in welcher Situation diese Sprache erwirbt (Boyes Braem 1995). Becker und Jaeger unterscheiden beim Erwerb der Gebärdensprache folgende Erwerbskontexte (Becker, Jaeger 2019):
- Gebärdensprache als Erstsprache im Rahmen eines natürlichen und ungesteuerten Erwerbs in der frühen Kindheit
- Gebärdensprache als Erstsprache im Rahmen eines verzögerten Erwerbs (z. B. bei Schuleintritt)
- Gebärdensprache als Zweitsprache bei Kindern oder Jugendlichen, die bereits eine Lautsprache als Erstsprache gelernt haben, auf die sie beim Gebärdenspracherwerb aufbauen können
Auch wenn es sich bei den Kindern, die in einem gebärdensprachlichen Umfeld aufwachsen, um einen kleinen Prozentsatz (ca. 5-10% der gehörlosen Kinder) handelt, bezieht sich der folgende Text ausschließlich auf diese Kinder, da anhand dieser Gruppe aufgezeigt werden kann, wie ein natürlicher Gebärdenspracherwerb funktioniert (vgl. Becker & Jaeger 2019).
Bisherige Untersuchungen deuten darauf hin, dass Kinder, die eine Gebärdensprache auf natürliche Art und Weise als Erstsprache erwerben, die Grundzüge der Gebärdensprache nach vergleichbaren Mustern – unabhängig von der Sprachmodalität - erwerben wie hörende Kinder, die eine Lautsprache erlernen (Hänel-Faulhaber 2012).
Entwicklungsschritte von Laut- und Gebärdensprache im Vergleich
Das untenstehende Schaubild verdeutlicht die einzelnen Entwicklungsschritte in der Gebärdensprache im Vergleich zur Lautsprache.
Bis zur Produktion erster Mehrwort- bzw. Mehrgebärdenäußerungen im Alter zwischen 1;6 und 2;0 Jahren verläuft der prinzipielle Erwerb der Gebärdensprache weitgehend parallel zu dem der Lautsprache. Mit dem Erwerb der Grammatik folgt der Spracherwerb den für die jeweilige Sprachmodalität notwendigen Strukturen (vgl. Mayberry & Squires 2006). Dazu zählt zum Beispiel die Verwendung von manuellen und non-manuellen Artikulatoren, die in der Lautsprache keine bedeutungstragende Rolle spielen.
Alter | Lautsprache | Gebärdensprache |
---|---|---|
Ab Geburt | Artikulieren von Lauten | Bewegungen von Händen und Armen |
ca. 0;6 | Vokales Lallen (Produktion von Lauten und Lautkombinationen in der Lautsprache) | Manuelles Lallen (Produktion von Handformen und rhythmischen Bewegungen der Gebärdensprache) |
ca. 0;6 | Erste (Zeige-)Gesten | Erste (Zeige-)Gesten |
ca. 1;0 | Erste Wörter | Erste Gebärden |
ca. 1;6 | Zwei-Wort-Äußerungen | Zwei-Gebärden-Äußerungen |
ca. 2;0 | Drei- und Mehrwort-Äußerungen | Drei- und Mehrgebärden-Äußerungen |
Bis ins Schulalter | Erwerb komplexer grammatischer Strukturen, Erweiterung des Wortschatzes und Ausbau pragmatischer Kompetenzen | Erwerb komplexer grammatischer Strukturen, Erweiterung des Wortschatzes und Ausbau pragmatischer Kompetenzen |
Entwicklungsstufen im frühen Laut- und Gebärdenspracherwerb, aus: Becker & Jaeger 2019
Erwerbsstrategien Gebärdensprache
Folgende Erwerbsstrategien gehörloser Kinder lassen sich nach Becker und Jaeger beobachten:
Im ersten Lebensjahr: Vorlexikalisches Entdecken
Wie hörende Kinder durchlaufen auch gehörlose Kinder die erste Phase des Lallens. Aufgrund des mangelnden akustischen Feedbacks hören sie aber irgendwann auf und kommen nicht ohne externe Unterstützung in den zweiten Erwerbsschritt, bei dem sie das Lautinventar der sie umgebenden Lautsprache lernen. Gleichzeitig entdecken Kinder in dieser Zeit ihre Hände und fangen an, diese sowohl bewusster wahrzunehmen als auch visuell anzusteuern. Nach und nach schränken sich die Babys, die diesen gebärdensprachlichen Input bekommen, in ihrem manuellen Lallen auf die Handformen und die rhythmischen Bewegungen der sie umgebende Gebärdensprache ein und sie beginnen damit, die phonologischen Grundelemente der Gebärdensprache zu erwerben. In dieser frühen Phase lassen sich noch keine konkreten Gebärden oder bildhaften bzw. visuellen Äußerungen ausmachen.
Ab 12 Monaten: erste Wörter und Gebärden
Mit ca. 10 Monaten fangen Kinder an, auf anwesende Objekte und Personen zu zeigen und dabei verschiedene Gesten zu benutzen. Bei gehörlosen Kindern scheint das Zeigen (im Gegensatz zu hörenden Kindern) mit der Zeit rückläufig zu sein. Stattdessen fangen sie an, für bestimmte Personen konkrete Gebärden (zum Beispiel MAMA) zu benutzen.
Ab 18 Monaten: Beginn des syntaktischen Prinzips
Die Wortschatzgrenze von 50 Gebärden wird ca. im Alter von 1;6 Jahren erreicht (Lillo-Martin 1999). Gehörlose Kinder fangen zudem ab ca. 18 Monaten an, einzelne Gebärden miteinander zu kombinieren. Diese Zwei-Gebärden-Sätze weisen kaum Deklinationen und Konjugationen auf. Verben werden meist im Infinitiv verwenden, Nomen nicht korrekt flektiert. Bei Entscheidungsfragen sind Kinder bereits im Zweiten Lebensjahr in der Lage, die entsprechende grammatikalische Mimik korrekt einzusetzen. Bei W-Fragen wird die Fragekonstruktion zunächst nur manuell über die entsprechende Frage-Mimik markiert, eine grammatisch korrekte mimische Markierung kommt erst später hinzu.
Ab 24 Monaten: Komplexere Sätze
Mit ca. 2 Jahren beginnen Kinder, erste grammatische Mehrwortkonstruktionen zu verwenden. Personalpronomen werden nun korrekt verwendet, Verben räumlich flektiert und Richtungsverben korrekt ausgeführt.
Ab 36 Monaten: Räumliche Grammatik
DGS-lernenden Kindern gelingt es nun, syntaktische Zusammengänge von manuellen und nicht-manuellen Komponenten in zunehmendem Maße korrekt darzustellen. Mimik wird zunehmend differenzierter genutzt, Konditionalsätze manuell gekennzeichnet. Im Alter von 28 bis 32 Monaten fangen Kinder mit DGS als Erstsprache an, Richtungsverben auf Abwesendes zu verwenden, was als Anzeichen dafür gesehen werden kann, dass die Kinder beginnen den Gebärdenraum grammatisch korrekt zu nutzen.
Literatur
Becker, C. & Jaeger, H. (2019). Deutsche Gebärdensprache. Tübingen: Narr Francke Attempo Verlag
Boyes Braem, P. (1995). Einführung in die Gebärdensprache und ihre Erforschung. 3. Auflage, Hamburg: Signum Verlag
Hänel-Faulhaber, B. (2012). Gebärdenspracherwerb: Natürliches Sprachlernen gehörloser Kinder. In: Eichmann, H. & Hansen, M. et al (Hrsg.) (2012): Handbuch Deutsche Gebärdensprache. Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven. Seedorf: Signum Verlag
Lillo-Martin, D. (1999). Modality effects and modularity in language acquisition: The acquisition of American Sign Language. In: Ritchie, W. & Bhatia, T. (Hrsg.): Handbook of Child Language Acquisition. San Diego.
Mayberry, R. & Squires, B. (2006). Sign language acquisition. In: Lieven, E. (Hrsg.),: Language Acquisition. Encyclopedia of Language and Linguistics. Oxford
Weiterführende Literatur und Materialien
Achhammer, B. (2014). Pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten fördern. München: Reinhardt-Verlag
Audeoud, M., Becker, C. et al (2016). Bi-bi Toolbox. Impulse für die bimodal-bilinguale Bildung. Online unter https://teach-designbilingual.univie.ac.at
Baker, A., van den Bogaerde, B., Pfau et al (2016). The Linguistics of Sign Languages: An Introduction. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company
Becker, C. (2012). DGS als Unterrichtsfach – Errungenschaften und Herausforderungen heute. In: dfgs forum 20, 65-86
Becker, C. (2020). Literalität in Deutscher Gebärdensprache und Deutsch. In: Das Zeichen, 116/2020, S. 460-473
Becker, C.& Jaeger, H. (2019). Deutsche Gebärdensprache: Mehrsprachigkeit mit Laut- und Gebärdensprache. Tübingen: Narr Francke Attempto
Becker, C., von Meyenn, A. (2012). Phonologie: Der Aufbau gebärdensprachlicher Zeichen. In Eichmann, H., Hansen. M. et al (Hrsg.), Handbuch Deutsche Gebärdensprache (S. 31-61). Seedorf: Signum
Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg (Hrsg.) (2017). Bildungsplan Grundschule, Stadtteilschule, Gymnasium. Rahmenplan Deutsche Gebärdensprache. Hamburg: Behörde für Schule und Berufsbildung
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Grote, K., Sieprath, H. et al (2018). Deaf Didaktik? Weshalb wir eine spezielle Didaktik für den Unterricht in Gebärdensprache benötigen. In: Das Zeichen, 110/2018, S. 426-438
Hansen, M. (2012). Textlinguistik: Gebärdensprache im Kontext. In Eichmann, H., Hansen, M. et al (Hrsg.), Handbuch Deutsche Gebärdensprache: sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven (S. 199 - 224). Seedorf: Signum-Verlag
Hänel-Faulhaber, B. (2012). Gebärdenspracherwerb: Natürliches Sprachlernen gehörloser Kinder. In Eichmann, H., Hansen, M. et al (Hrsg.), Handbuch Deutsche Gebärdensprache – Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven (S. 293-310). Seedorf: Signum
Haug, T., Becker, C. et al (2023). Sprachentwicklung von Kindern in Deutscher Gebärdensprache diagnostizieren. In: Hörgeschädigtenpädagogik, 1/2023, S. 27-34
Hillenmeyer, M. & Tilmann, S. (2012). Soziolinguistik: Variation in der DGS. In: Eichmann, H., Hansen, M. et al (Hrsg.), Handbuch Deutsche Gebärdensprache – Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven (S. 245-270). Seedorf: Signum
Langer, G. (2005). Bilderzeugungstechniken in der Deutschen Gebärdensprache. In: Das Zeichen, 70/2005, S. 254-270
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Kolbe, V. (2021). Filmvortrag: Sprachproduktionstest Narrative Kompetenzen in Deutscher Gebärdensprache - ein neues Testverfahren für Kinder (4-11 Jahre). Abrufbar unter https://nakom.hu-berlin.de
Kolbe, V. (2023). Sprachproduktionstest zu narrativen Kompetenzen in Deutscher Gebärdensprache (NaKom DGS) - eine Testadaption. Humboldt-Universität zu Berlin. Abrufbar unter https://doi.org/10.18452/25868
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