Zitiervorschlag: Gingelmaier, S., Brandstetter, R., Bleher, W., Vrban, R., Gitschier, L., Utz, J., Annecke, L., Binder, M., Kopp, S., Offermann, J., Urtimur, V., C. & Witt, N. (2019). „Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB Verhalten“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:sonderpaedagogisches_handeln_ileb_verhalten, CC BY-SA 4.0
Das hier vorliegende zirkuläre Modell schließt theoretisch und fachlich an das Modell „Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB“ an und bildet mit Blick auf spezifische Fragestellungen zum Verhalten von Kindern und Jugendlichen einen verstehenden Ansatz ab.
Es wird versucht, Verhalten zu verstehen, da die Ursachen bzw. die zugrundeliegenden Bedürfnisse von Verhaltensweisen in hohem Maße individuell, kontextabhängig und dynamisch sind. Zum Beispiel kann „kindliche Unruhe“ ein Resultat von Langeweile, Freude, Angst, Über- bzw. Unterforderung, Gruppendynamik, Depression, Autismus-Spektrum, Trauma, ADHS u.v.m. sein. „Kindliche Unruhe“ kann auch Ausdruck eventuell unbewusster Bedürfnisse sein, selbst Anerkennung zu erhalten, Anforderungen und Frustrationen zu vermeiden, Aufmerksamkeit von anderen abzuwenden um diese z.B. zu schützen, sich verfestigende Situationen zu verhindern, etc. . Die wesentlichen Elemente des zirkulären Modells sind
Zitiervorschlag: Grafik „Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB Verhalten“ von Gingelmaier, S., Brandstetter, R., Bleher, W., Vrban, R., Gitschier, L., Utz, J., Annecke, L., Binder, M., Kopp, S., Offermann, J., Urtimur, V., C., Witt, N., Albrecht, C. & Staubitz, P. (2024) nach Brandstetter, R., Stecher, M. & Rauner R. (2016). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:sonderpaedagogisches_handeln_ileb_verhalten, CC BY-SA 4.0
Das zirkuläre Modell muss in Abhängigkeit des Einzelfalls situativ angepasst werden (evtl. bezüglich der Abfolge und Wiederholung einzelner Schritte im Detail, Art und Umfang der diagnostischen Daten, Einsatz diagnostischer Methoden, etc.). Die Schritte sind dementsprechend als variabler und eng verzahnter Prozess zu verstehen.
Sonderpädagogisch relevante diagnostische Fragestellungen das Verhalten betreffend können sich in folgenden Feldern entwickeln:
Insbesondere im Rahmen des Tätigkeitsfeldes des sonderpädagogischen Dienstes oder der sonderpädagogischen Frühförderung gilt es kooperativ mit den am Prozess Beteiligten zunächst eine Auftragsklärung vorzunehmen.
Nach von Schlippe (2003) ist dabei zu unterscheiden in:
Leitend im Rahmen der Auftragsklärung sind die Prinzipien Subsidiarität, Teilhabeorientierung und Nachhaltigkeit. Die Formulierung einer ersten sonderpädagogisch diagnostisch relevanten Fragestellung kann sich ggf. kooperativ mit den am Bildungsprozess Beteiligten an die Auftragsklärung anschließen.
Die diagnostische Fragestellung ist dreigliedrig:
Es wird im diagnostischen Prozess immer wieder erforderlich sein, die diagnostische Fragestellung auf Ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Dabei ist es auch möglich, dass eine Fragestellung sich erst während des Prozesses kooperativ entwickelt oder eine bereits formulierte Fragestellung aufgrund neuer Erkenntnisse verändert werden muss. Dies erfolgt zunächst auf der Basis einer mehrperspektivisch entwickelten Betrachtung und Beschreibung des Verhaltens.
Um das berichtete und/oder beobachtbare Verhalten besser verstehen zu können, benötigt es zunächst grundsätzlich eine detaillierte, mehrperspektivische und strukturierte Beschreibung, z.B. durch den Einbezug der Kategorien des Bildungsplans. Die Verhaltensweisen sollten dabei möglichst wertneutral beschrieben werden.
Die Diagnostiker:innen selbst sind mit ihren Beobachtungen, Wahrnehmungen, Normen und Werten, Impulsen, Gedanken und Resonanzen durchgängig Teil des diagnostischen Prozesses. Ihre subjektiven Wahrnehmungen und Resonanzen werden reflektiert, mit Blick auf die Relevanz für den Fall bewertet, ggf. genutzt und als solche kenntlich gemacht (Was löst das Kind in mir aus? Was bedeutet das für den diagnostischen Prozess/Fall?).
Es können zur strukturierten Beschreibung des Verhaltens auch verschiedene Klassifikationsraster aus Theorien (z.B. Myschker/Stein, 2014) oder aus diagnostischen Verfahren (z.B. die aus der CBCL, SVS, SEVE, OPD, o.ä.) genutzt werden. Wichtig ist dabei allerdings: Die sich daraus ergebenden Klassifizierungen erklären das beschriebene Verhalten nicht.
Aus Theorie und Forschung (z.B. Entwicklungswissenschaft, Sozialisationsforschung etc.) können für das Verstehen von Verhalten folgende Themenfelder abgeleitet werden:
Eingangs-Hypothesen werden gebildet, indem das Verhalten des jungen Menschen in Verbindung mit seiner bio-psycho-sozialen Lebenswirklichkeit - hier abgebildet über die Themenfelder und Themen - gebracht wird.
Häufig werden bereits während der Phase der Verhaltensbeschreibung und unter Berücksichtigung erster Informationen von allen am Prozess Beteiligten sogenannte Eingangs-Hypothesen entwickelt.
Die auf die Themenfelder und Themen bezogenen Eingangs-Hypothesen begründen die Auswahl der weiteren diagnostischen Methoden bzw. Verfahren.
Sie strukturieren demnach zunächst den weiteren diagnostischen Prozess.
Zur konkreten Planung der nächsten Schritte muss schriftlich kurz begründet werden, welche Eingangs-Hypothese durch welche passgenaue Form der Informationsgewinnung überprüft bzw. präzisiert werden soll (Operationalisierung).
Ziel der Erhebung aller weiteren diagnostischen Daten ist also die Prüfung,
Die Hypothesen-Prüfung selbst wird unter Bezug auf folgende vier mögliche Zugänge schriftlich festgehalten und diskutiert:
Die genannten vier Zugänge sind grundsätzlich als gleichwertig anzusehen.
Häufig empfiehlt es sich, verschiedene Zugänge zu kombinieren. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, z.B. aus diagnostischen Methoden passgenaue, auf die Eingangs-Hypothesen bezogene Teile auszuwählen (z.B. Subtests, ausgewählte Abschnitte eines Fragebogens, etc.).
Die Eingangs-Hypothesen, die durch die Hypothesen-Prüfung zumindest in Teilen belegt werden können, werden zu Erklär-Hypothesen. Die Belege dazu gilt es mit Verweis auf die Quellen schriftlich festzuhalten. Nicht belegbare oder widerlegte Eingangs-Hypothesen entfallen im weiteren Prozess.
In der Diskussion werden nun alle Erklär-Hypothesen schriftlich oder grafisch gegenübergestellt und miteinander in Zusammenhang gebracht. Mit Bezügen zu Theorie und Forschung wird erörtert, wie gewichtig bzw. bedeutsam die einzelne Erklär-Hypothese im Verstehensprozess in Bezug auf die diagnostische Fragestellung (vgl. Auftrag klären und sonderpädagogische Fragestellung entwickeln) ist.
In der kooperativen Bildungs- und Erziehungsplanung werden nach Möglichkeit unter aktiver Beteiligung des jungen Menschen gemeinsam realistische Entwicklungsziele und konkrete Bildungs- und Erziehungsangebote vereinbart.
Die Erklär-Hypothesen bilden dabei wichtige Bindeglieder zwischen Diagnostik, Bildung und Erziehung. Aus ihnen werden die Entwicklungsziele und die daraus folgenden Bildungs- und Erziehungsangebote stringent abgeleitet. Stringent meint, auf der Basis einer verstehenden Diagnostik den Erklär-Hypothesen umfassend pädagogisch Rechnung zu tragen und eben nicht nur allgemein präventiv, ad hoc und reaktiv am sichtbaren und messbaren Verhalten des jungen Menschen anzusetzen.
Die Ziele selbst werden so konkret wie möglich formuliert, sind möglichst überprüfbar, für alle Beteiligten verständlich, realistisch und erreichbar.
Die Planung der individuellen Bildungs- und Erziehungsangebote erfolgt unter bestmöglicher Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse, unter Einbezug einer grundlegend pädagogischen Haltung und unter Einbezug des Erfahrungswissens pädagogischer Fachkräfte. Die Zuständigkeit für die Umsetzung der Bildungs- und Erziehungsangebote wird gemeinsam geklärt.
Zu unterscheiden sind grundsätzlich individuelle Bildungs- und Erziehungsangebote, die auf der Basis des Verstehensprozesses in folgenden Formen angelegt sind:
Im Rahmen der Begleitung von jungen Menschen mit massiven Verhaltensproblematiken kann es also erforderlich sein, zum Schutz des jungen Menschen selbst sowie weiterer Personen oder Gegenstände ad hoc zu intervenieren. Dieses deeskalierende Vorgehen darf aber einer erforderlichen pädagogischen Haltung nicht widersprechen.
Grundsätzlich gilt: Eine intensive Beziehungsgestaltung ist die Basis jeglicher Bildungs- und Erziehungsangebote mit (hoch-)belasteten jungen Menschen. Dies beinhaltet die Gewährleistung eines hohen Maßes an Verlässlichkeit von Seiten der Pädagog:innen, das Aushalten von Krisen und Rückschritten und die Besonnenheit in besonders herausfordernden Situationen im Sinne einer förderlichen und reflexiven Nähe- und Distanzregulation. Insbesondere in Krisen muss dem jungen Menschen die Chance auf korrigierende Gegenerfahrungen geboten werden.
Die Umsetzung der Bildungs- und Erziehungsangebote findet auf der Basis einer intensiven Beziehungsgestaltung und der Möglichkeit der Veränderung hemmender Kontexte unter anderem in folgenden Formen statt:
Einbezug weiterer Unterstützungssysteme:
Die Bildungs- und Erziehungsangebote orientieren sich an den individuellen Voraussetzungen der Beteiligten sowie an den rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen.
Mit Blick auf die weitere Entwicklung des jungen Menschen ist es bedeutsam, dass die am Prozess Beteiligten dauerhaft und regelmäßig miteinander in verschiedenen - von den jeweiligen Verantwortlichkeiten abhängigen - Konstellationen im Gespräch bleiben. Dabei gilt es unter anderem zu prüfen, ob die vereinbarten Entwicklungsziele und die daraus abgeleiteten individuellen Erziehungs- und Bildungsangebote noch passend sind.
Entscheidend ist bei diesem prozessualen Prüfen nicht alleine die Frage, ob zunehmendes sozialverträgliches Verhalten beim jungen Menschen beobachtbar ist. Es geht vielmehr um die Reflexion und Einordnung, was das aktuelle Verhalten mit Blick auf die Erklär-Hypothesen über die psycho-soziale Entwicklung des jungen Menschen aussagt. Auf der Basis dieser Einschätzung gilt es abzuwägen, ob und inwiefern die Entwicklungsziele und die daraus abgeleiteten Erziehungs- und Bildungsangebote modifiziert werden müssen.
Für die Überprüfung der Bildungs- und Erziehungsangebote stehen im Spiegel des dargestellten Handlungsmodells die gleichen offenen Möglichkeiten zur Verfügung wie bei der Überprüfung der Eingangs-Hypothesen:
Folgende Fragestellungen können bei der Überprüfung hilfreich sein:
Die Dokumentation bildet die Schritte des Handlungsmodells - Verhalten ab. Die Dokumentation erfolgt prozessbegleitend, das heißt im Falle der prozessorientierten Diagnostik fortlaufend entlang von Bildungsbiografie und Lebenswelt.
Adressat:innenbezogene Formen der Dokumentation berücksichtigen insbesondere die Verständlichkeit für die Erziehungsberechtigten und der weiteren am Bildungsprozess Beteiligten.
Dokumentationsformate, die an die Schulverwaltung adressiert sind, nehmen in erster Linie die fachlichen Qualitätsstandards in den Blick.
Im Falle von Feststellungsverfahren gilt es zusätzlich die Kriterien zu prüfen, die für einen Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot in einem bestimmten Förderschwerpunkt sprechen.
Die kriteriale Prüfung erfolgt im Spiegel folgender Punkte:
Brandstetter, R., Stecher, M. & Rauner R. (2016). Sonderpädagogisches Handeln im Rahmen von ILEB. Abgerufen von URL:https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:sonderpaedagogisches_handeln_ileb
Burghardt, M. & Brandstetter, R. (2008). Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung: Aufgabe und Instrument der Arbeit an Sonderschulen. In vds, Landesverband Baden-Württemberg (Hrsg.), Pädagogische Impulse, 3/2008.
Lienhard, P. & Joller-Graf, K. (2011). Rezeptbuch schulische Integration: Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule. Bern: Haupt-Verlag.
Trost, R. (2008). Bedingungsanalytische Diagnostik: Ein Vorschlag zur Überwindung alter Gräben. In Hiller, G. G., Trost, R. & Weiß, H. (Hrsg.). Der diagnostische Blick. Vaas: C&C-Verlag.
Trost, R. (2017). „Man sieht nur, was man weiß.“ Diagnostik in inklusiven und sonderpädagogischen Arbeitsfeldern. In: Lindmeier, C. & Weiß, H. (Hrsg.). Pädagogische Professionalität im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und inklusiver Bildung. Sonderpädagogische Förderung heute, 1. Beiheft. Weinheim: Beltz Juventa
v. Schlippe, A. (2003). Grundlagen systemischer Beratung. In Zander, B., Knorr, M. (Hrsg.), Systemische Arbeit in der Erziehungsberatung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg