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Auffälliges Verhalten im Kontext Sehbeeinträchtigung oder Blindheit

Zitiervorschlag: Wahl, B. (2020). „Auffälliges Verhalten im Kontext Sehbeeinträchtigung oder Blindheit“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d18, CC BY-SA 4.0

ICD10 bzw. 11- H00 – H59 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde (Kapitel VII)
- H53 – H54 Sehstörungen und Blindheit
- F88 (andere Entwicklungsstörungen): zerebral bedingte visuelle Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen
StatistikAus einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts, die die Anzahl blinder/sehbehinderter Menschen anhand der ausgestellten Schwerbehindertenausweise (GdB min. 50) ermittelte, geht hervor, dass bei 3,4% aller Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung diese angeboren ist. Der Bevölkerungsanteil von Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre mit Schwerbehindertenausweis, bei dem Blindheit oder Sehbehinderung die schwerste Behinderung ist, liegt bei unter 0,5%.
Bei 1,5% der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf liegt laut Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung (2015) ein Förderbedarf im Bereich Sehen vor. Kinder mit hochgradiger Sehbehinderung oder Blindheit machen 1/5 davon aus. (Heyl, Hintermair, Sarimski; 2018)
Es liegen keine Prävalenzraten zu visuellen Wahrnehmungsstörungen vor.
DiagnostikDie förderschwerpunktspezifischen Arbeitshilfen Verhalten können hierfür verwendet werden
https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:arbeitshilfen:verhalten
Ursachen und Risikofaktoren in Bezug auf die Entwicklung auffälligen VerhaltensKinder und Jugendliche mit Blindheit oder Sehbehinderung haben ein höheres Risiko, auffälliges Verhalten zu entwickeln und es besteht hier ein erhöhter Unterstützungsbedarf.
In einer Studie mit 226 Kindern und Jugendlichen mit Blindheit oder Sehbehinderung (im medizinisch-sozialrechtlichen Sinne) zeigen sich signifikante Unterschiede zu Kindern ohne Sehbeeinträchtigung. Insbesondere in Beziehungen zu Gleichaltrigen zeigt diese Gruppe eine besondere Vulnerabilität. Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigungen und weiteren Behinderungen weisen noch einmal eine höhere Prävalenz für Verhaltensauffälligkeiten auf. (Heyl, Hintermair und Sarimski ; 2018)
Kinder und Jugendliche mit Blindheit entwickeln häufig stereotype Verhaltensweisen, wie z.B. Augenbohren, Körperschaukeln oder repetitive Bewegungen, sowie selbstverletzendes oder aggressives Verhalten (Sarimski, Lang; 2016). Dieses Verhalten wirkt im sozialen Kontakt auf Gleichaltrige irritierend und kann soziale Beziehungen gefährden.
Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Hörsehbehinderung oder Taubblindheit ist durch die doppelte Beeinträchtigung erheblich in der sozialen Interaktion und Kommunikation eingeschränkt, so dass hier eine sonderpädagogische Intervention und Begleitung unabdingbar ist.
Bei Kindern und Jugendlichen mit Visuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen zeigen sich auffällige Verhaltensweisen und Probleme in der sozialen Interaktion, die häufig durch die Einschränkung in der Wahrnehmung begründet liegen (z.B. Einschränkungen beim Erkennen von Gesichtern, Personen oder Mimik; bei der Objekterkennung, der räumlichen Orientierung oder dem Bewegungssehen). Hier besteht eine besondere Herausforderung in der Differenzialdiagnostik bzw. Komorbidität zu Hyperaktivität oder autistischem Verhalten.
Woran könnte es liegen, dass Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit häufiger und insgesamt über einen längeren Zeitraum hinweg Verhaltensauffälligkeiten zeigen?
Betrachtet man die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Sehbehinderung oder Blindheit (Visus unter 0,3) zeigen sich laut einer Erhebung von Heyl, Hintermair und Sarimski erhöhte Risiken in Bezug auf die Teilhabe an Unterricht und Freizeit aufgrund folgender Faktoren:
- Die Wahrnehmung von Handlungsabsichten oder Emotionen im sozialen Kontakt ist erschwert
- Die Fähigkeit der Perspektivenübernahme wird verzögert erworben
- Pragmatische Sprachkompetenzen unterscheiden sich (Gespräche einleiten, Bezugnahme auf den Kontext, Anteile stereotyper Beiträge)
-Weniger Gelegenheiten zum Erwerb sozialer Kompetenzen aufgrund weniger Kontakte mit Gleichaltrigen
Weitere mögliche Einflussfaktoren auf die Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten sind das Alter, der Bildungsort und das Vorliegen zusätzlicher Beeinträchtigungen. Auffällig ist eine höhere Häufigkeit externalisierender Verhaltensauffälligkeiten bei SuS in SBBZ.
Es gibt keine Unterschiede bei Migration, Eintritt der Sehschädigung und Bildungsstatus der Eltern.
Einer Untersuchung zum Freizeitverhalten sehbehinderter oder blinder Jugendlicher aus dem Jahre 2015 von Bickes und Lindmeier lässt darauf schließen, dass Jugendliche mit Blindheit oder Sehbehinderung im Aufbau von Freizeitbeschäftigungen insbesondere mit Kontakten zu sehenden Jugendlichen Unterstützung benötigen. Es zeigen sich im Vergleich zu gleichaltrigen Jugendlichen ohne Sehschädigungen eine geringere Selbstständigkeit, ein kleinerer sozialer Radius und eine höhere Bedeutung von Aktivitäten mit der Familie. (Bickes, Lindmeier; 2016)
Betrachtet man die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit zerebral bedingten Sehbeeinträchtigungen ergeben sich folgende Zusammenhänge:
Zerebral bedingte Sehstörungen können Auswirkungen auch auf andere kognitiven Funktionen haben, auch resultieren daraus nicht selten sekundäre sozial-emotionale Probleme. (S2k-Leitlinie 022-020: Visuelle Wahrnehmungsstörung von 04/2017) insbesondere durch:
- fehlende Gesichtserkennung (Prosopagnosie)
- Schwierigkeiten im Erkennen und Deuten von Emotionen anhand der Mimik
- Schwierigkeiten in der richtigen Einschätzung sozialer Nähe und Distanz
- fehlende oder eingeschränktes Erkennen von Objekten
- fehlendes oder eingeschränktes Bewegungssehen
Die Prävalenz von Sehstörungen wird laut der Leitlinie Visuelle Wahrnehmungsstörungen (2017) bei der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) mit ca. 7% angegeben. Hier wird auch ein signifikanter Zusammenhang zwischen ADHS und Beeinträchtigungen des Sehens beschrieben, so sind Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigungen häufiger von ADHS betroffen, ebenso weisen Kinder und Jugendliche mit ADHS häufig auch Auffälligkeiten in der visuellen Wahrnehmung auf. (S2k-Leitlinie 022-020: Visuelle Wahrnehmungsstörung von 04/2017)
Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit müssen folgende Risikofaktoren daher zusätzlich in den Blick genommen werden:
Biografische Entwicklung
- Eintrittszeit Sehbeeinträchtigung/Blindheit
- Prä-, Peri- oder Postnatale Komplikationen
- Frühgeburt
- Frühe Stresserfahrung durch medizinisch notwendige Interventionen
Familiendynamik
- Hohe Elternbelastung/elterliches Stresserleben aufgrund der Diagnose „Sehbehinderung - Blindheit“
- Beeinträchtigung der frühen Kind – Bezugspersonen -Interaktion durch fehlenden/eingeschränkten Blickkontakt
- Ablehnung, Verwöhnung oder Überbehütung aufgrund der Diagnose „Sehbeeinträchtigung - Blindheit“
- Hohe Fremdbestimmung durch die Eltern bis ins junge Erwachsenenalter
Selbst
- Fehlende Selbstwirksamkeits- und Autonomie-Erfahrungen
- Veränderte Selbsteinschätzung (Über- oder Unterschätzung) der eigenen Kompetenzen
- Fehlendes Nachahmungslernen
- Stereotype Verhaltensweisen (Augenbohren,
- Körperschaukeln, repetitive Handbewegungen…)
- Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten durch fehlenden/eingeschränkten Blickkontakt, Wahrnehmung und Produktion von Mimik/Gestik
- Erschwerte Interpretation von eigenen und oder fremden Gefühlen/Bedürfnissen
- Fehlende Möglichkeiten/Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Behinderung
Individuelle Voraussetzungen
- Im Vergleich zu sehenden Kindern/Jugendlichen verzögerte Entwicklung der Theory of Mind
- Schwierigkeiten in der Entwicklung der exekutiven Funktionen aufgrund fehlender visueller Eindrücke der sächlichen und personellen Umgebung
- Fehlende oder falsche Einschätzung der Nähe und Distanz
- Veränderte Kommunikation durch fehlenden visuellen Eindruck der Situation und des Gegenübers
- Kein Blickkontakt bei Kommunikation
- Fehlende Gesichtserkennung
- Fehlende Kompetenzen zur Formulierung der eigenen Bedürfnisse
- Fehlende Motivation, selbst aktiv zu werden (Bewegung, Kontaktaufnahme…)
- Eingeschränkte Selbstständigkeit
Gesundheit
- Progredienz der Erkrankung (Sehverschlechterung)
- Weitere Beeinträchtigungen und Behinderungen
- Krebserkrankungen
- Geringe Lebenserwartung
- Syndrome
- Intelligenzminderung
- Autismus-Spektrum-Störung
- ADHS
(Vor-) schulischer Kontext
- Später Zeitpunkt des Beginns der Frühförderung
- Anregungsarme Umgebung
- Große und/oder wechselnde Gruppen
- Offenes Konzept im Kindergarten
- Häufig wechselnde Bezugspersonen in vorschulischen/schulischen Einrichtungen
- Fehlende räumliche und zeitliche Orientierungshilfen
- Entfernung des Schulorts zum Heimatort
- Internatsunterbringung
- Gefahr der Ausgrenzung in inklusiven Settings
Peerbeziehung
- Häufigkeit der Kontakte zu Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigung
- Fehlende Peer-Kontakte zu anderen Kindern/Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung
- Schwierigkeiten in der kommunikativen Interaktion mit Gleichaltrigen
- Eingeschränkte Mobilität
- Fehlende Kenntnisse in sozialen Codes der Peer-Group (z.B. Kleidung, Körperhaltung, Mimik/Gestik…)
- Mangelnde Fähigkeiten im Bereich Lebenspraktische Fähigkeiten (Essen, Kleidung, Körperpflege…)
- Mobbing aufgrund der Sehbeeinträchtigung
- Nicht-Eingehen sehender Peers auf die Bedürfnisse der Person mit Sehbeeinträchtigung - Blindheit
Intervention allgemein- Frühe medizinische Diagnostik
- Passende Interventionen (Ausstattung mit Hilfsmitteln, Sehförderung, …)
- Angebote der Frühförderung und Beratungsstellen
- Assistenzkräfte im inklusiven Unterricht
- Ermöglichen von Peer-Kontakten zu anderen Kindern/Jugendlichen mit und ohne Blindheit/Sehbeeinträchtigung
- Ermöglichung von Kontakten zu erwachsenen Menschen mit Sehbeeinträchtigung/Blindheit („role models“)
- Information und Aufklärung der Bezugspersonen in Familie und in Einrichtungen
- Intervention in Bezug auf Lebenspraktische Fähigkeiten und Orientierung und Mobilität

Literatur

Bickes, L & Lindmeier, B (2016). Freundschafts- und Freizeitsituation von Jugendlichen mit einer Sehbeeinträchtigung. blind-sehbehindert, 1/2016, 29-38.

Heyl, V, Hintermair, M. & Sarimski, K. (2018). Auswirklungen von Beeintröchtigungen des Sehens und Blindheit auf das Verhalten von sehgeschädigten Schülerinnen und Schülern. Empirische Sonderpädagogik 2018, Nr. 3, 311-323.

Lang, M. & Sarimski, K. (2017). Stereotypien bei blinden Kleinkindern. blind-sehbehindert 2/2017, 90-94.

Weber, P et.al (2017). S2k-Leitlinie 022-020: Visuelle Wahrnehmungsstörung https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-020l_S2k_Visuelle-Wahrnehmungsstoerungen_2017-12.pdf (abgerufen am 31.7.2020).

Klemm, K. (2015). Inklusion in Deutschland. Gütersloh https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_IB_Klemm-Studie_Inklusion_2015.pdf (abgerufen am 31.7.2020).

Robert Koch Institut (2017). GBE-Themenheft Blindheit und Sehbehinderung. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Berlin https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/blindheit.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 31.7.2020).


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