< zur Übersicht

Traumapädagogik

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. , Brandstetter, R., Annecke, L. (2020). „Traumapädagogik“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:traumapaedagogik, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungDie Traumapädagogik versteht sich als spezifisches pädagogisches Unterstützungsangebot, jedoch nicht als therapeutische oder klinische Intervention. Sie ist ein ergänzender, aber eigenständiger Ansatz zur Bearbeitung von Traumata in pädagogischen Settings und Arbeitsfeldern. (vgl. Kühn & Bialek, 2017, 20) Das pädagogische Feld bietet einen Raum für korrigierende Beziehungen (vgl. Kühn & Bialek, 2017, 22). „Der psychosoziale Auftrag der Traumapädagogik liegt nicht in einer Behandlung traumatisierte Menschen (…) sondern in der Begleitung auf dem Weg in die Eigenaktivierung“ (Kühn &Bialek 2017, 73). Julius (2009) berichtet in einer kleinen Studie, dass 85% der Kinder eines SBBZ ESENT mindestens ein Monotrauma erlitten hatten, 66% der Kinder waren sogar drei bis fünf (oder mehr) Beziehungstraumata durch Menschen aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ausgesetzt. „Unverarbeitete traumatische Erfahrungen sowie die Schule als Bedingungsfeld für einen fortlaufenden traumatischen Prozess erschweren das schulische Lernen enorm“ (Gitschier & Gingelmaier, 2017 S. 89). Das SBBZ ESENT soll deswegen insbesondere ein sicherer Ort für junge Menschen, aber durch z.B. Supervision, Deeskalation und Verarbeitungsangebote auch für pädagogische Fachkräfte sein (vgl. Gingelmaier, Taubner & Ramberg, 2018, 220). Aufgrund des erhöhten Vorkommens von Beziehungstraumata bei jungen Menschen im FSP ESENT spielt der Beziehungsaufbau und die Beziehungsgestaltung, neben der Beziehungsfähigkeit für pädagogische Fachkräfte eine wesentliche Rolle. Gerade pädagogische Fachkräfte (Lehrer:innen) können zu wichtigen Beziehungspersonen werden, die den Kindern neue (Beziehungs-)Erfahrungen anbieten können (vgl. Kühn & Bialek,2017, S. 63), jedoch wird die pädagogische und schulische Arbeit stark über Beziehungen vermittelt.
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?1. Insbesondere bei sequentiellen Polytraumata muss Schule als System/Organisation begreifen, dass sie (1) mit den Traumafolgen konfrontiert werden wird und (2) in Umgang und Bewältigung eine bedeutende Rolle spielt.
2. Gerade im Zusammenhang mit auftretenden Beziehungstraumatisierungen (Julius, 2009) können Traumafolgen ein sehr zögerliches, misstrauisches (Nicht)Einlassen auf professionelle Beziehungen oder im Gegenteil ein sorgloses, beliebiges, mitunter distanzloses Aufbauen von Beziehung bedingen.
3. Die professionelle Beziehungsgestaltung mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen gleicht oftmals einer „Achterbahnfahrt“. Die pädagogischen Fachkräfte können, je wichtiger sie für die Kinder und Jugendlichen werden, stark in Berührung mit dem Trauma kommen, dies kann eine gesamte Verhaltensbreite an mitunter heftigen Interaktionen nach sich ziehen (z.B. Ablehnung, Hass, Liebe, Distanzierung, Distanzlosigkeit).
4. Deswegen ist es wichtig, dass eine pädagogische Organisation, die mit (vielen) traumatisierten jungen Menschen zu tun hat, sich institutionell und personell traumapädagogisch profiliert.
5. Grundlegende systemisch anzuwendende Konzepte der Traumapädagogik sind Schule/Einrichtung als sicherer Ort, Beziehungsbasierung der pädagogischen Arbeit (Beziehung als Methode), traumasensibler Umgang mit spezifischen Traumasymptomen (z.B. Flashbacks, Dissoziationen) und unspezifischen (z.B. Unruhe, Aggression).
GrenzenDie Grenzen der Traumapädagogik werden erreicht, wo eine therapeutische oder klinische Intervention notwendig wird. In symptomatisch eher milderen Fällen von Traumatisierungen kann dies traumapädagogisch oder in Kombination mit therapeutischen Interventionen erfolgen, sobald aber tatsächliche Formen von Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegen, müssen die klinisch-therapeutischen Dienste einbezogen werden. Für das Wahren von Grenzen müssen insbesondere die pädagogischen Fachkräfte auch in ihrer Selbstfürsorge gestärkt werden, da eine beziehungsbasierte Arbeit eine innere Stabilität voraussetzt. Werden die Möglichkeiten der pädagogischen Fachkräfte dauerhaft überlastet, drohen insbesondere in der Arbeit mit hoch belasteten jungen Menschen inadäquate pädagogische Verwicklungen, Burn-out oder durch Affektansteckung eine Traumatisierung der pädagogischen Fachkräfte. Die pädagogische Einrichtung muss den Fachkräften im Sinne von Psychohygiene für diese Herausforderung Anerkennung, Verarbeitungsmöglichkeiten und Ideen des Ausgleichs bieten.
Diagnostische Fragestellungen im
Zusammenhang mit der Theorie
siehe. Traumatheorie
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
siehe. Traumatheorie
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote Akute Interventionen
Kommt es bspw. zu Flashbacks oder Dissoziationen ist ein behutsames Zurückholen in das Hier und Jetzt sinnvoll. Durch Trigger werden abgespaltene Erinnerung aus der/den traumatischen Situation(en) wachgerufen und so erlebt, als würden sie aktuell geschehen (Kanz, 2017). Durch ruhige Ansprache kann auf die Sicherheit des Hier und Jetzt verwiesen werden.
Längerfristige Interventionen
a) Pädagogik des sicheren Ortes: Zu unterscheiden sind zunächst sichere „äußere“ und sichere „innere“ Orte. Äußerlich sichere Orte werden aktiv „sicher“ gestaltet und zwar hinsichtlich der Organisation und Struktur (z.B. Sitzordnung, Stundenpläne, Rituale, Transparenz, etc.) oder hinsichtlich der bewussten Gestaltung von Interaktionen (z.B. Beziehung als Methode, Klassenklima, Partizipation, etc.). Das Aufsuchen eines sicheren inneren Ortes meint, aufkommende Stresssituationen in Form von Triggern rechtzeitig zu identifizieren, um sich durch eingeübte Imaginationen und dem damit verbunden Aufsuchen eines sicheren, imaginären inneren Ortes z.B. vor Flashbacks zu schützen.
b) Pädagogik der Selbstermächtigung: Gemeint ist hier neben der Unterstützung zur Sensibilisierung der Wahrnehmung, um aufkommenden Stress früh zu erkennen z.B. das Einüben ritualisierter Handlungen (Kaugummi kauen, einen Gegenstand fokussieren, etc.) zur Stressüberwindung. Das Prinzip der Mitbestimmung und die Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeitserfahrung sind in diesem Konzept ebenso bedeutsam.
c) Pädagogik des guten Grundes: Hier geht es insbesondere um die Haltungsdimension im Umgang mit traumatisierten Menschen und der damit verbundenen nicht-richtenden Akzeptanz des subjektiv als sinnvoll erlebten Verhaltens.
Es ist darüber hinaus sehr wichtig in die Selbstfürsorge und Verarbeitungsmöglichkeit der pädagogischen Fachkräfte zu investieren.
Formelle Trainings
Es gibt sehr differenzierte Fortbildungen in Traumapädagogik, diese werden z.B. von der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie zertifiziert: https://www.degpt.de/
institute-traumapaedagogik.pdf

Literatur

Fischer, G., Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Ernst Reinhardt.

Gauleiter, S. B., Hensel, T., Baierl, M, Kühn, M., & Schmid, M., (2014). Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Gingelmaier, S., Taubner, S., Ramberg, A., (2018). Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Gitschier, L. & Gingelmaier, S. (2017). Das Konzept der Sequentiellen Traumatisierung und seine Bedeutung für die pädagogische Arbeit in der Schule. In W. Bleher & S. Gingelmaier Kinder und Jugendlich nach der Flucht (S. 80 -93). Weinheim: Beltz.

Julius, H. (2009): Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Interventionen. In: H. Julius, B. Gasteiger-Klicpera, & R. Kißgen (Hrsg.) Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Interventionen (S. 13-26). Göttingen: Hogrefe.

Kanz, C. (2017). Trauma und Traumfolgen. In W. Bleher & S. Gingelmaier Kinder und Jugendlich nach der Flucht (S. 93 -104). Weinheim: Beltz.

Kühn, M. & Bialek, J. (2017). Fremd und kein Zuhause. Traumapädagogische Arbeit mit Flüchtlingskindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Universität Hamburg. (2014). Die Notwendigkeit einer professionellen Traumapädagogik als fester Bestandteil in der sozialen Arbeit. Abgerufen von http://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2015/2879/pdf/WS.SA.BA.ab14.99.pdf

Witt, N (2020). Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen. In: Springmann-Preis, S.: Notsignale aus dem Klassenzimmer. 173-187. Wien, Köln, Weimar, utb.

Zimmermann, D. (2016). Traumapädagogik in der Schule. Pädagogische Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

< zur Übersicht


Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg