Zitiervorschlag: Gingelmaier, S., Brandstetter, R., Annecke, L. (2020). „Systemtheorie/ Systemik“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:systemtheorie_systemik, CC BY-SA 4.0
Psychodynamik/Psychoanalyse, Lerntheorie/Behaviorismus, Humanistische Psychologie und Systemtheorie sind grundlegendste Theorien und Menschenbilder in fast allen Bereichen der Psychologie und in anderen Wissenschaften, wie z.B. hier der (Sonder-)Pädagogik. Alle vier Grundlagen-Theorien haben sich entweder aus klinisch-therapeutischen Anwendungen entwickelt oder führten umgekehrt in eine Therapieform. Die daraus abgeleiteten Arbeitsweisen in der (Sonder-)Pädagogik lassen sich grundsätzlich einer oder mehreren Theorien zuordnen und stellen damit häufig Mischformen dar.
Kurzbeschreibung | Die erste Generation von Systemiker:innen kam aus der Psychoanalyse und wandte sich von ihr ab. Psychische Störungen sind kein individuelles Problem, sondern Ergebnis eines fehlgesteuerten Systems bzw. problematischer Kommunikation dieses Systems (z.B. Familie oder Partnerschaft aber auch Klasse oder Tagesgruppe). Individuelle psychische Störungen sind dann Ausdruck eines „gestörten“ Systems bzw. einer gestörten Kommunikation. Der Betroffene ist vor allem Symptomträger für das System. Wichtige theoretische Grundlage für die Systemik ist der Konstruktivismus und die damit verbundene zentrale Haltung: „Handle so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert.“ (v. Foerster, 1973). Das systemische Denken ist eng mit der Idee von Lösungsorientierung verknüpft. Probleme sollen nicht durch eine Analyse der Ursachen, sondern durch die im System bereits vorhandene Lösung bearbeitet werden. Es gilt die Annahme: Das System hat ausreichend Ressourcen. In der Therapie soll es so verändert werden, dass individuelle Symptome keine Bedeutung mehr haben und damit verschwinden. |
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Klinische Diagnostik und Therapie | Die systemische Therapie zielt auf die Veränderung des Systems, also der Beziehungs- und Interaktionsmuster z.B. in Partnerschaft, Familie oder Gruppe ab. Das bestehende System soll also neu interpretiert (Perspektivwechsel) bzw. therapeutisch ausreichend „gestört“ werden, sodass es sich so organisieren kann, dass Kommunikation stattfinden kann, ohne Symptome zu produzieren. |
Ziel | Gelingende Kommunikationsprozesse sollen in einem selbstreferenziellen System (wieder-) hergestellt werden. |
Ausformungen | - Kommunikationstherapie (Watzlawick/Jackson) - Systemische Familientherapie (Haley/Satir/Selvini-Palazoli) - Strukturelle Familientherapie (Minuchin) - Dynamische Familientherapie (Stierlin) - Kollusion/Koevolution (Willi) - Familienaufstellung (Hellinger) |
Bedeutung für die Sonderpädagogik | - Nachhaltige Veränderung des Systems (z.B. Familie aber auch Klassen) durch systemische Techniken, sodass individuelle Symptome überflüssig werden - Kontexteinbezug und systemische Beratung - Lösungs- statt Problemorientierung |
Konkrete Beispiele | - Familiengespräche - Paradoxe Interventionen - Zirkuläre Fragen -Lösungsorientierte Beratung |
Grenzen | Die systemischen Verfahren zeigen gerade in der sonderpädagogischen Diagnostik unerlässlich die immense Bedeutung von Kontext, Kontextualisierung und darin liegender (nicht) gelingender Kommunikation auf. Allerdings ist eine Gefahr, dass das Individuum in seiner Einzigartigkeit und mit seinen spezifischen Stärken und Schwächen nur noch als „Spielball“ des Systems gesehen wird. Individualität und biographisches Gewordensein können massiv an Bedeutung verlieren. Dies bedingt auch die Schwierigkeit, dass systemische Interventionen mitunter als manipulativ und für das Individuum hart empfunden werden, da das Ziel der Störung des Systems auf individueller Ebene in einer leichtfertigen Verwendung systemischer Interventionen z.B. zu Retraumatisierungen führen kann. |
Diagnostische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Theorie | - Wie funktioniert die Kommunikation im vorliegenden System? - Wie produziert dieses System Verhaltensauffälligkeiten bei der:dem Symptomtragenden? - Wie kann das System gestört werden, sodass die Kommunikation in andere, funktionalere und lösungsorientierte Bahnen gelenkt wird? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - FAST - FIT |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Akute Interventionen - Familiengespräche, - paradoxe Interventionen, - zirkuläre Fragen/ Lösungsorientierte Beratung Längerfristige Interventionen - Ziel ist es, wie oben bereits genannt, Handlungsmöglichkeiten durch die Minimierung von Kommunikationsbarrieren zu vergrößern. Formelle Trainings - Ausbildungen in systemischer Pädagogik, https://www.dgsp.org (Dachverband syste-mische Pädagogik) - Ausbildungen in systemischer Beratung/Therapie, https://systemische-gesellschaft.de (Dachverband Systemische Gesellschaft), https://www.dgsf.org/ueber-uns (Dachverband Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie. |
Kriz, J. (2014). Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz.
Foerster, H, v. (1973). On Constructing a Reality. In: W. F. E. Preiser (Ed) (S. 35–46). Envi-ronmental Design Research, Vol. 2. Stroudberg: Dowden, Hutchinson & Ross.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg