Zitiervorschlag: Gingelmaier, S., Brandstetter, R. (2022). „Resilienz und Schutzfaktoren“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:wsd:verhalten:theorien_verhalten:schutzfaktoren, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Kinder und Jugendliche, die auffälliges Verhalten zeigen, sind oftmals starken psychosozialen Belastungen ausgeliefert. Deshalb ist die Suche nach unterstützenden und protektiv wirkenden Faktoren sinnvoll. Im Folgenden soll in diesem Zusammenhang die Theorie der Schutzfaktoren kurz beleuchtet werden. Deren Ursprünge finden sich im Konzept der Resilienz, das aus dem der Salutogenese von Aaron Antonovsky hervorging (vgl. Mittelmark et al., 2017). „Wenn sich Personen trotz gravierender Belastungen oder widriger Lebensumstände psychisch gesund entwickeln, spricht man von Resilienz“ (Fröhlich-Gildhoff, Dörner, & Rönnau-Böse, 2019). Resilienz stellt einen multidimensionalen Prozess dar, der sowohl „biologische, psychologische als auch psychosoziale“ Faktoren miteinschließt (Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S.11). Er bedarf also einer Risikosituation, die eine Person mithilfe vorhandener „persönliche[r] und sozial vermittelte[r] Ressourcen“ (Eichenberg & Senf, 2019, S. 50), den sogenannten Schutzfaktoren, bewältigen kann (vgl. Esser, 2008, S. 20). In Bezug auf die aktuelle Forschung lässt sich feststellen, dass der Fokus primär auf der Wechselwirkung zwischen Risiko- und Schutzfaktoren liegt (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 20). Lehmkuhl & Erlbruch (2013) weisen z.B. darauf hin, dass die Anzahl an Risikofaktoren großen Einfluss auf den pathologischen Verlauf besitzt (vgl. S. 181). Dementgegen erhöht eine größere Anzahl an Schutzfaktoren „die Wahrscheinlichkeit, dass mit ihnen Risikofaktoren ausgeglichen werden können“ (Witteck, 2014, S. 22). „Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, soziale Kompetenz, Umgang mit Stress [sowie] Problemlösefähigkeiten“ (Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 30f.) stellen diesbezüglich wichtige Faktoren dar. Zu den personalen Ressourcen gehören zudem „positive Temperamenteigenschaften [und] intellektuelle Fähigkeiten“ (Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 30f.) Folgende Zusammenfassung aus Wustmann 2012, Egle et al. 1997, Laucht et al. 2000, Scheithauer & Petermann,1999 |
|
---|---|---|
Schutzfaktoren | Personale Faktoren | Förderliche Eigenschaften, die das Kind von Geburt an aufweist, wie z.B. ein positives Temperament mindestens Durchschnittlicher IQ sichere Bindung |
Resilienzfaktoren | positives Selbstwertgefühl Selbstwirksamkeitsüberzeugungen aktives Bewältigungsverhalten |
|
Umgebungsbezogene Faktoren | mindestens eine stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson Modelle positiven Bewältigungsverhaltens |
|
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | In Bezug auf die emotionale und soziale Entwicklung lässt sich festhalten, dass insbesondere der sozialen Ressource „Bindung“ oder „Beziehung“ eine entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. Eichenberg & Senf, 2019, S. 51). Eine „stabile, wertschätzende, emotional warme Beziehung zu einer (erwachsenen) Bezugsperson“ (S.31f.) ist der Schutzfaktor, „der am stärksten zu einer gelingenden, seelisch gesunden Entwicklung beiträgt und viele Risikofaktoren abpuffern kann“ (Frölich-Gildhoff, Dörner, 2019, S. 31f.). Es lässt sich schließen, dass auch Lehrpersonen eine solche Beziehung gewährleisten können und sie somit die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen in ihrem Verantwortungsbereich maßgeblich beeinflussen. Lehrpersonen können darüber hinaus in ihrer Vorbildfunktion den Schutzfaktor der sozialen Kompetenz der Kinder und Jugendlichen fördern (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 52). Sie sollten zudem eine „klare, transparente u. konsistente“ (Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 30f.) Regelhandhabung mit klaren Strukturen verfolgen. Des Weiteren ist eine angemessene „Hilfestellung bei der Emotionsregulation“ (Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 49f.), durch das Ansprechen von Gefühlen und möglichen Verhaltensalternativen förderlich (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 49f.). Die bereits erwähnte, schützende Wirkung der Selbstwirksamkeit kann durch das Aufzeigen von „Stärken und Kompetenzen“ sowie durch die Übertragung von Verantwortung und Ermutigung gestärkt werden (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al., 2019, S. 48). Auch in Bezug auf die „positiv ansteigende Inklusionsquote“ im Förderschwerpunkt ESENT wird die Bedeutung von Schutzfaktoren zunehmende Relevanz erhalten (vgl. Stein & Müller, 2015, S.115). |
|
Grenzen | Hiller (2008) warnt davor Resilienz- und Schutzfaktorenmodelle als neoliberale Machbarkeitsphantasien zu begreifen, wo die Wenigen, die unter widrigen Umständen dem kapitalistischen Ideal entsprechen können genau dafür gefeiert werden, während die Anderen, die krumme und verschlungene Wege gehen, es nicht in die gesellschaftliche Mitte schaffen und weder politisch, psychosozial, finanziell, noch ethisch ausreichend anerkannt werden. | |
Diagnostische Fragen im Zusammenhang mit der Theorie | - Welche individuellen Schutzfaktoren können beim Kind und in seinem Umfeld ausgemacht werden? - Kann man die dazu passenden Geschichten (Narrative) kreativ in den Unterricht integrieren? - Lässt sich die Qualität und die Quantität der spezifischen Schutzfaktoren erhöhen? - Hat die Lehrperson verinnerlicht, dass sie selbst ein extrem wichtiger Resilienzfaktor sein kann? - Wie kann das pädagogische Personal die Beziehungsgestaltung optimieren? - Ist die Peer-Gruppe als Schutz- und Resilienzfaktor ausreichend im Blick? - - Begünstigt das Schulkonzept den Auf- und Ausbau von Schutz- und Resilienzfaktoren? - Wie gelingt es, den jungen Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen? |
|
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | Fragebogen zu Ressourcen im Kindes- und Jugendalter | |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Akute Interventionen Aus den längerfristigen Interventionen lassen sich unzählige von akuten Interventionen ableiten. Es wäre aufgrund der oben aufgezeigten Komplexität und Kombinationsmöglichkeiten von Faktoren nahezu vermessen, hier DIE eine konkrete akute Intervention als repräsentativ dazustellen. Längerfristige Interventionen Pädagogische Fachkräfte sollten ihre Zeit mit den Kindern und Jugendlichen nutzen, um mit Ihnen an einem positiven Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und aktivem Bewältigungsverhalten zu arbeiten. Es ist dabei darauf zu achten, dass es für die jungen Menschen mindestens eine stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson gibt. Zu berücksichtigen ist, dass Kinder und Jugendliche, die jahrelang gelernt haben, dass Missachtung, Gewalt und Entwertung mit naher Beziehung assoziiert ist, Nähe und Anerkennung deswegen oftmals abwehren, abwerten, ignorieren oder zerstören müssen. Formelle Trainings - Lubo aus dem All! - Faustlos |
Eichenberg, C., & Senf, W. (2019). Einführung Klinische Psychosomatik: Mit 17 Abbildungen und 14 Tabellen (1. Auflage). München: Ernst Reinhardt Verlag.
Egle, Ulrich & Hoffmann, S. & Steffens, M. (1997). Psychosoziale Risiko- und Schutzfaktoren in Kindheit und Jugend als Prädisposition für psychische Störungen im Erwachsenenalter
Gegenwärtiger Stand der Forschung. Der Nervenarzt. 68. 683-695. 10.1007/s001150050183.
Esser, G. (2008). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen (3., aktualisierte und erweiterte Auflage). Stuttgart: Georg Thieme Verlag. Retrieved from http://dx.doi.org/10.1055/b-002-8281
Fröhlich-Gildhoff, K., Dörner, T., & Rönnau-Böse, M. (2019). Prävention und Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen - PRiK: Ein Förderprogramm (4. aktualisierte Auflage). München: Ernst Reinhardt Verlag.
Hiller, Gotthilf G., (2008). „Resilienz“ – für die pädagogische Arbeit mit Risikojugendlichen und mit jungen Erwachsenen in brisanten Lebenslagen ein fragwürdiges, ja gefährliches Konzept? In: Michael Fingerle und Günther Opp, Hrsg. Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. 3. Auflage. München/Basel: Reinhardt, S. 266–278.
Laucht, Manfred & Schmidt, Martin & Esser, Günter. (2000). Risiko- und Schutzfaktoren in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Frühförderung interdisziplinär. 19. 97-108.
Lehmkuhl, G., & Erlbruch, W. (2013). Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Göttingen: Hogrefe. Retrieved from http://sub-hh.ciando.com/book/?bok_id=471904
Mittelmark, M. B., Lindström, B., Bauer, G. F., Espnes, G. A., Pelikan, J. M., Eriksson, M., & Sagy, S. (2017). The Handbook of Salutogenesis. Schweiz: Springer International Publishing. Retrieved from http://www.doabooks.org/doab?func=fulltext&rid=21310
Scheithauer, Herbert & Petermann, Franz. (1999). Zur Wirkungsweise von Risiko- und Schutzfaktoren in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Kindheit Und Entwicklung - KINDH ENTWICKL. 8. 3-14. 10.1026/0942-5403.8.1.3.
Stein, R., & Müller, T. (Eds.) (2015). Inklusion in Schule und Gesellschaft: Band 5. Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (1. Auflage). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Witteck, C. (2014). Resilienz in der Sozialpädagogik: Möglichkeiten der Resilienzförderung (1., Aufl.). Hamburg: Diplomica Verlag.
Wustmann Seiler, C. (2012). Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg