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Psychodynamik/ Psychoanalyse

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S., Brandstetter, R., Annecke, L. (2020). „Psychodynamik/ Psychoanalyse“. Abgerufen von URL https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:psychodynamik_psychoanalyse, CC BY-SA 4.0

Psychodynamik/Psychoanalyse, Lerntheorie/Behaviorismus, Humanistische Psychologie und Systemtheorie sind grundlegendste Theorien und Menschenbilder in fast allen Bereichen der Psychologie und in anderen Wissenschaften, wie z.B. hier der (Sonder-)Pädagogik. Alle vier Grundlagen-Theorien haben sich entweder aus klinisch-therapeutischen Anwendungen entwickelt oder führten umgekehrt in eine Therapieform. Die daraus abgeleiteten Arbeitsweisen in der (Sonder-)Pädagogik lassen sich grundsätzlich einer oder mehreren Theorien zuordnen und stellen damit häufig Mischformen dar.

KurzbeschreibungPsychische Störungen sind durch vergangene oftmals verdrängte und damit unbewusste Konflikte (z.B. aus Beziehungen, Traumata) und/oder innere unbefriedigte Bedürfnisse (Triebe) bedingt. Diese machen sich aus dem Unbewussten eher indirekt (z.B. Neurose, Psychosomatose) bemerkbar. Es kommt zu affektiven Dynamiken im Menschen, z.B. im Instanzenmodell bei Freud gesehen als Konflikt zwischen Es, Ich und Über-Ich. Dieses dynamisch Unbewusste manifestiert sich in Symptomen. Der frühen Kindheit kommt als besonders sensiblen Phase eine wichtige Bedeutung zu. Ebenso spielt die dort erfahrene Bindung und Beziehung und deren Repräsentation im Gegenüber zunehmend eine zentrale Rolle.
Klinische Diagnostik und TherapieAuf verschiedene Arten (z.B. freie Assoziation) wird versucht, an unbewusste Inhalte heranzukommen. Es soll eine affektive Übertragung auf die:den Therapeut:in stattfinden. Über die Aktualisierung unbewusster Affekte und Kognitionen soll es möglich werden, die Inhalte zu verarbeiten. Die modernen psychodynamischen Theorien gehen stärker von Affektdynamiken im Hier und Jetzt als im unbewussten Damals aus. Die Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD) sieht v.a. die Achsen Beziehung, Konflikt und Struktur als entscheidend an.
KurzversionSymptome sind Ausdruck verdrängter innerer und/oder äußerer psychischer Konflikte bzw. starker Affekte. Diese sollen affektiv aktualisiert und kognitiv bewusstgemacht werden und so psychisch verarbeitet (integriert) werden.
ZielVerarbeitung von Verdrängtem und von inneren Konflikten.
Entwicklung der TheorieVom Trieb zur affektiven Beziehungsdynamik
Ausformungen- Psychoanalyse (Freud),
- Bindungstheorie (Bowlby/Ainsworth),
- Analytische Therapie (Jung),
- Individualtherapie (Adler),
- Ich-Analyse (A. Freud),
- Fokaltherapie (Balint),
- Psychodrama (Moreno),
- Katathymes Bildererleben (Leuners),
- psychoanalytische Paar- und Familientherapie (Richter),
- Transaktionsanalyse (Berne),
- Imago-Therapie (Hendrix),
- Gruppenanalyse (Foulkes),
- Mentalisierungstheorie (Fonagy, Target)
Bedeutung für die SonderpädagogikDer Schlüssel ist ein Verstehen des jungen Menschen und seiner unbewussten Bedürfnisse. Über pädagogische Haltungen sollen, getragen von Beziehungen, Gegenerfahrungen ermöglicht werden, die ein sozial-emotionales Nachreifen ermöglichen.
Konkrete BeispieleArbeit auch am Unbewussten an und über Beziehungen, Bindungen, Haltungen, Affekten, Szenisches Verstehen, Supervision und Spiel.
GrenzenDie Grenzen liegen insbesondere im Umgang mit dem Unbewussten. So gibt es z.B. fundamentale Kritik am Instanzenmodell von Freud. Ebenso zu wenig geklärt ist, wie pädagogische Fachkräfte unbewusste Inhalte bewusstmachen sollen, ohne spezifisch darin geschult zu sein. Psychodynamisch arbeitende Psychotherapeut*innen durchlaufen hierfür ein jahrelanges Theorie- und Selbsterfahrungstraining (z.B. Lehranalyse), um sich und insbesondere die eigenen „blinden Flecken“ besser kennenzulernen. In neueren Ausprägungen wie der Bindungs- oder Mentalisierungstheorie spielt der Trieb und das Unbewusste eine deutlich kleinere Rolle.
Diagnostische Fragestellungen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Gibt es im Verhalten des jungen Menschen Anteile, die nicht bewusst/unwillkürlich/ nicht kontrollierbar sind?
- Was sind typische Dynamiken/Konstellationen, die dazu führen? Ist dies als ein spezifisches (unbewusstes) Muster beschreibbar? Welchen (unbewussten) Sinn ergibt das Verhalten für den jungen Menschen?
- Was kann dabei helfen, diese Dynamiken bewusst und beeinflussbar zu machen?
- Welche Beziehungen haben den jungen Menschen affektiv und in Beziehungsaufbau und -gestaltung zu anderen wie geprägt? Welche Unterstützungsformen sind im pädagogischen Alltag leistbar?
- Welche Anteile kommen in dynamischen Situationen (z.B. Konflikte) vom jungen Menschen selbst, was kommt von anderen?
- Was sind die blinden Flecken der Lehrkraft? Wie geht diese damit um?
- Was überträgt sich vom jungen Menschen auf die Lehrkraft? Was bedeutet dies für die Planung individueller Bildungs- und Erziehungsangebote?
Konkrete diagnostische Methoden im
Zusammenhang mit der Theorie
- OPD-KJ
- PRODIBEZ
Impulse für die Gestaltung individueller BildungsangeboteAkute Interventionen
- Arbeit an und über Beziehungen
- Intervention aus Haltungen ableitbar
- Szenisches Verstehen
- Supervision und Fallverstehen
- Verschiedene Spielformen (Regelspiele, Als-ob-Spiel…)
- Hinweise und Ideensammlung zum situativen Handeln
Längerfristige Interventionen
- Die psychodynamischen Theorien bieten differenzierte Ansätze, Verhalten reflexiv zu verstehen. Grundannahme ist, dass die Verhaltensstörungen für den/die Schüler/in als individuelle Anpassungsleistung Sinn in einer Notlage ergeben.
- Der Schlüssel zum Verstehen sind die (unbewussten) Bedürfnisse, Muster und Affekte des jungen Menschen.
- Über pädagogische Haltungen sollen Gegenerfahrungen ermöglicht werden, die ein sozial-emotionales Nachreifen ermöglichen.
Formelle Trainings
- Ausbildung in psychoanalytischer Pädagogik z.B. FAPP Frankfurt
- Mentalisierungsbasierter Pädagogik z.B. Mented.de
- Individualpsychologische Beratung z.B. DGfIP
- Gruppenanalyse für den psychosozialen Bereich s. D3G

Literatur

Kriz, J. (2014). Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz.

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg