Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2020). „Konzepte des Selbst“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:konzepte_selbst, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Das Selbst ist ein Konzeptsystem, das aus den Gedanken und Einstellungen über sich selbst (Siegler et al., 2016, S. 409) besteht. Es ist individuell und lebenslang veränderbar. In diesem Zusammenhang gibt es eine Reihe von affektiven, kognitiven und körpernahen Konzepten („Spiegelstrich-Selbst“), die als Teilaspekte eines Selbstkonzeptes gesehen werden können. Eine kleine Auswahl der für die emotionale und soziale Entwicklung und das Verstehen von Verhalten bedeutsamen Teilaspekte findet sich nachfolgend. Selbstwert: Der Selbstwert resultiert als affektive Komponente des Selbst aus den Bewertungen der eigenen Person oder von Aspekten, die die eigene Person ausmachen. Somit können sich die Bewertungen auf Persönlichkeitseigenschaften, Fähigkeiten oder auf aber auf das eigene emotionale Erleben beziehen (Lohaus & Vierhaus, 2013. S. 169). In diesem Sinn kann man vereinfacht sagen, dass Menschen mit einem guten (aber nicht zu stark überhöhten) Selbstwert genügend Selbstvertrauen für die Bewältigung ihrer Alltagshandlungen aufbringen (oder wiederherstellen) können. Menschen, die unter (massiven) Selbstzweifeln leiden, werden davon in ihrer Alltagsverrichtung behindert. Ein wichtiger Faktor für eine resiliente Entwicklung von (belasteten) Kindern und Jugendlichen sind deren Selbstwirksamkeit(serwartungen), also wie sie auf Themen und in soziale Situationen hineingehen bzw. Misserfolge und Konflikte verarbeiten. Dabei ist eine zentrale Frage die, nach den Selbstattributionsstilen: Bewältigungsopitmistische Kinder schreiben sich Erfolge selbst zu („Ich kann halt Mathe“) und finden die Gründe für Misserfolge im Außen („Die Arbeit war einfach zu schwer“). Bewältigungspessimistische Kinder verlagern die Gründe für Erfolge hingegen ins Außen („Die Arbeit war halt leicht.“), während sie die Ursachen für Misserfolge vor allem bei sich selbst suchen („Ich kann das einfach nicht.“). Desweiteren wird ein Real-Selbst von einem Ideal-Selbst unterschieden, das gerade in der Adoleszenz oftmals sehr wechselhaft ist. Je weiter das Real-Selbst und die Ansprüche an ein Ideal-Selbst auseinanderliegen, desto stärker mündet dies in Selbstwertprobleme und als Ausdruck davon oftmals in Verhaltens- und Gefühlsstörungen. Im Selbstbild sammeln sich die Annahmen, die eine Person von sich selbst hat - ähnlich dem Selbstkonzept. Dabei kann sowohl das Real- wie auch das Ideal-Bild zum Tragen kommen. Das Fremdbild ist entweder das Bild, das andere von einem Selbst haben, oder sogar häufiger, das Bild, dass das eigene Selbst davon hat, wie andere es sehen. Das fremde Selbst entspringt der Idee, dass Menschen aufgrund früherer misslungener Spiegelungsprozesse nie das Gefühl entwickeln konnten, dass sie sich verstanden fühl(t)en bzw. dass ihr spezifisches Selbst adressiert war. Ein Beispiel: Eine Mutter ist dauerhaft davon überzeugt, dass ihr Baby nur deswegen schreit, um sie zu ärgern. Das Kind lernt, dass eigene Bedürfnisse z.B. Schmerzen nicht verstehbar sind, beim bedeutenden Anderen Stress und Aggression auslösen und deswegen letztlich nicht zu befriedigen sind. Dauerhaft kann sich nun - z.B. präverbal unbewusst - Schmerzempfinden mit Wut, Stress und Gefühlen des hoffnungslosen Unverstandenseins verbinden. So kann die affektive Lage des Selbst über das Schmerzempfinden hinaus unerklärlich in Bedrängnis kommen. Diese Invalidierung der subjektiven Affektlage von Kindern kann zu einem dauerhaften unproduktiven Gefühl führen, sodass sich ein Selbst in der eigenen Person fremd anfühlen kann. |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Alle Formen des Umgangs mit Selbstwertproblemen oder beschädigten Identitäten können je nach persönlicher Verarbeitungs- und Kommunikationsstruktur ein Teil einer resilienten Entwicklung sein. Falls aber eine ungünstige Kumulation von Risikofaktoren dies nicht zulässt, kann auf alle Formen von Selbstwertproblemen mit externalisierenden oder internalisierenden Verhaltensweisen reagiert werden. Externalisierende Formen wären z.B. ein sich selbst Überhöhen, um Selbstzweifel zu überspielen oder die Anwendung von Gewalt als Mittel, um sich selbstwirksam zu fühlen und den Selbstwert damit zu unterfüttern. Internalisierende Formen wären z.B. Resignation in die Hoffnungslosigkeit als Bestätigung eines entsprechenden Selbst- oder Fremdbildes oder Verweigerung als Mittel, um sich nicht mit selbstentwertenden Themen beschäftigen müssen. Menschen neigen dazu, auch solche unproduktiven oder gar destruktiven Selbsterzählungen als Selbstkonzepte immer wieder in konkreten Interaktionen und Szenen herzustellen – selbstverständlich auch im Rahmen von Schule. Die entstehenden selbsterfüllenden Prophezeiungen sind in der Folge auch dort beim Verstehen von gezeigtem Verhalten bedeutsam. |
Grenzen | Es gibt eine nahezu unüberschaubare Menge an „Spiegelstrich-Selbsten“. So sehr man mit diesen gerade im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung pädagogisch-reflexiv arbeiten kann, so sehr muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich um Konzepte handelt. Diese sind nur so gut, wie die daraus entstehende Erklärung und das davon abgeleitete Bildungs- und Erziehungsangebot dem einzelnen Kind bzw. Jugendlichen eine echte Unterstützung bietet. |
Diagnostische Fragen im Zusammenhang mit der Theorie | - Welches der Selbstkonzepte kann einen Beitrag zum Verstehen von Verhalten leisten? - Welche Bildungs- und Erziehungsangebot kann den Selbstwert und die Selbstwirksamkeit nachhaltig verändern? - Kann hinter einem bestimmten externalisierenden oder internalisierenden Verhalten ein verunsicherter, beschädigter Selbstwert, ein überhöhtes Ideal-Selbst, ein resigniertes Real-Selbst, ein stressauslösendes Selbst- oder Fremdbild, eine bewältigungspessimistische Selbstattribuierung oder der Affekt eines fremden Selbst stehen? - Wurde in diese Überlegungen die Ambivalenz oder in Teilen sogar die Widersprüchlichkeit von Selbsterhaltungsstrategien einbezogen? Beispiele: Ein eigentlich sich hilflos fühlendes Selbst versucht mit aller Macht sein vermeintliches Minderwertigkeitsgefühl durch Kontrolle oder gar Gewalt abzuwehren oder ein Selbst muss alles dafür tun, dass es weiterhin Bestätigung dafür bekommt, wie „böse“, „nervig“ und „klein“ es sich fühlt. |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - Selbstwertinventar für Kinder und Jugendliche - Inventar zur Messung sozialer Kompetenzen in Selbst- und Fremdbild (ab 16 Jahren) - Die Aussagen-Liste zum Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche - ISF Impostor-Selbstkonzept-Fragebogen - Multidimensionale Selbstwertskala - Skalen zur Erfassung des schulischen Selbstkonzepts |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Akute Interventionen Produktive (und systemisch erwünschte) Könnenserfahrungen auf allen Ebenen verändern das individuelle oder kollektive Gefühl der Selbstwirksamkeit und sind „Balsam“ für den Selbstwert und das Selbstvertrauen. Längerfristige Interventionen Es muss im Bereich von Verhaltensauffälligkeiten nochmals betont werden, dass es gerade bei Kindern, die Formen von Kindeswohlgefährdung und Traumatisierungen erleiden mussten, schwierig sein kann, solche Könnenserfahrungen herzustellen. Es braucht Zeit und viel Vertrauensaufbau in der Beziehungsarbeit, um ein festgefahrenes Selbstbild (z.B. böse, faul, dumm, gemein, nutz- und wertlos) indirekt davon zu überzeugen, dass die kompensatorische Verunsicherung von Veränderungen dieses Selbstbildes gewinnversprechend sein kann. Dies ist nur konfliktreich vorstellbar und durch Fort- und Rückschritte gekennzeichnet. Formelle Trainings - Selbstkompetenzen bei Jugendlichen fördern |
Lohaus, A., & Vierhaus, M. (2015). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. Springer.
Küchenhoff, J. (2009). Definitionen und Beziehungsarbeit. In: Küchenhoff, J. / Mahrer Klemperer, R. (Hrsg). Psychotherapie im psychiatrischen Alltag. Die Arbeit an der therapeutischen Beziehung. Stuttgart: Schattauer, 2–11.
Siegler, Robert & Eisenberg, Nancy & DeLoache, Judy & Saffran, Jenny. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. 10.1007/978-3-662-47028-2.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg