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Habitus, Habitus-Konzept, Kapital-Theorie

Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2022). „Habitus, Habitus-Konzept, Kapital-Theorie“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:wsd:verhalten:theorien_verhalten:habitus, CC BY-SA 4.0

KurzbeschreibungUnter Habitus versteht man das Auftreten, die Haltung, die äußere Erscheinung, das Verhalten und persönlichen Eigenschaften eines Individuums sowie die Besonderheiten im Erscheinungsbild eines Menschen (vgl. Duden, 2019). Habitualisieren bedeutet dementsprechend „zur Gewohnheit werden; zur Gewohnheit machen“ (Duden, 2019). In seinem Buch die feinen Unterschiede belegt Bourdieu (1994) anhand ethnographischer Forschung, dass die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die von ihr evozierten Prägungen deutlich subtiler sind als beispielsweise die klassenweise Einteilung in Unter- Ober- und Mittelschicht. Er entwickelt dafür sein Habitus-Konzept, in dem es vereinfacht ausgedrückt z.B. um die soziale Determination von Geschmack geht. Dieses stellt dar, wie sich die Lebensweisen eines Individuums durch das Umfeld entwickeln (vgl. Bourdieu, 1994. S. 277ff). Nach Bourdieu bewegen sich die Individuen in abstrakten sozialen Räumen und sich daraus konstituierenden sozialen Feldern. Diese sind unbewusst (vgl. Bourdieu, 1995, S.277). Soziale Felder wären z.B. das ökonomische, kulturelle, politische, wissenschaftliche Feld sowie das Feld der sozialen Klassen. Diese Felder bestehen aus einzelnen sozialen Räumen und sind dichotom-dualistisch angeordnet (z.B. oben/unten, reich/arm, Herrscher und Beherrschter) (vgl. Bohn, 1991, S.26f). Zusammen bilden diese Felder ein Ensemble, welches nur als gesamtes funktionieren kann (vgl. Bohn, 1991, S.27). Diese Funktionalität wird durch den Habitus geregelt. Doch dieser nimmt nur indirekt Einfluss auf das Ensemble. Nur die soziale Dynamik der Felder gegenüber den persönlichen Interessen und den Einstellungen des Individuums bestimmen wechselseitig die Handlungen. Diese Dynamik verdeutlicht, wie das Individuum die gesellschaftliche Umwelt, in der es lebt, wahrnimmt, erlebt und gestaltet (vgl. Bohn, 1991, S.31).
Bourdieu nutzt den Begriff Kapital als Metapher und nicht im betriebswirtschaftlich-ökonomischen Sinn. Bourdieu meint mit „Kapitalkonfiguration“ die grundlegenden Voraussetzungen, mit der sich das Individuum an seinem eigenen Leben und der Umwelt beteiligen kann (vgl. Bourdieu, 1994, S. 20, S. 278, S. 286, S. 329). Es wird zwischen dem ökonomischen, dem kulturellen und dem sozialen Kapital unterschieden. Diese Kapitale wirken aufeinander ein. Der Akteur kann z.B. sein soziales Kapital nutzen, um sein ökonomisches zu erhöhen. Das jeweilige Kapital wird vom Akteur finanziell oder strukturell erworben (durch Kauf, Ausbildung oder seit Geburt vorhanden).
Der Habitus ist bestimmt durch die Verinnerlichung oder durch Konditionierungsprozesse bzw. Sozialisation. Das Verhalten des Akteurs (z.B. essen, kleiden) ist abhängig von der sozialen Schicht, der sich der Akteur zugehörig fühlt (unten/oben, reich/arm). Gleichzeitig erwartet das Individuum von seiner Umwelt die gleichen Verhaltensweisen. Der Habitus ist implizit. Das bedeutet, dass das Wissen über die eigenen Verhaltensweisen, Denkweisen, Wahrnehmungen und den darin Ausdruck findenden Geschmack unbewusst sind. Menschen reflektieren nicht die Art und Weise, wie sie sprechen, sich fortbewegen, was sie essen, tragen oder wie sie interagieren.
Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen?Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studie im Jahr 2000 ist der sozioökonomische Hintergrund ein bedeutungsstarker Indikator des Bildungserfolgs (vgl. Kampa, 2011, S. 70). Kinder und Jugendliche, die auffälliges Verhalten zeigen, sind oftmals in den unterschiedlichen bourdieuschen Kapitalsträngen benachteiligt (s. Risiko- und Schutzfaktoren). Z.B. führt geringes ökonomische Kapital dazu, dass andere Kapitale schlechter erhöht werden können, wie z.B. das kulturelle Kapital (Bildungstitel). Da der Habitus durch die Sozialisation verinnerlicht wird, hat die Umwelt, in welcher die Kinder und Jugendlichen leben, einen großen Einfluss auf deren Verhalten.
GrenzenDieses Modell stammt aus den 1970er Jahren und war in dieser Zeit höchst innovativ. Heute ist es immer noch aufschlussreich und gerade die Frage nach den verschiedenen Kapitaltypen, die einer Familie, einem Kind oder Jugendlichen zu Verfügung stehen, kann sehr aufschlussreich sein. Aber es ist für die heutige Zeit tendenziell zu starr. Man könnte sagen, dass sich zwar die „feinen Unterschiede“ sich durch den spezifischen Habitus immer noch zementieren, aber um im Bild zu bleiben sind die Unterschiede noch feiner geworden.
Diagnostische Fragen im
Zusammenhang mit der Theorie
- Welchen Habitus pflegt man als pädagogische Fachkraft selbst?
- Welches bourdieusche Kapital steht einem Kind/Jugendlichen zur Verfügung?
- Wo kann Schule und Sonderpädagogik unterstützen, mangelnde Kapitalressourcen auszubilden?
- Welchen Habitus pflegt eine Schule, ein Kollegium usw.?
- Wie bewusst ist sich die jeweilige Schule, wie gut ein jeweiliger schulischer Habitus zu ihrer Klientel passt?
- Wie bewusst ist sich eine Schule bzw. eine Lehrperson darüber, wo sie durch Bildungs- und Erziehungsprozesse Habitusveränderungen (z.B. Bildungsaufstieg) im Sinne hat und ob das mit möglichen Abwertungen des vermeintlich zu überwindenden sozialen Feldes mit seinem spezifischen Habitus verbunden ist?
Impulse für die Gestaltung individueller BildungsangeboteEs handelt sich um eine soziologische Theorie, die versucht, gesellschaftliche Zusammenhänge zu beleuchten. Es sind hieraus keine akuten oder längerfristigen Interventionen abzuleiten.

Literatur

Bohn, C. (1991). Habitus und Kontext: Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus. Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften.

Bourdieu, P. (1994). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (7. Aufl.). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

„Habitus“ auf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Habitus (Abrufdatum: 10.02.2020).

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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg