Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2020). „Bewusstsein“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:bewusstsein, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Die Bewusstseinsforschung ist ein hoch relevanter, aktueller und dynamischer Wissenschaftszweig - auch für die Pädagogik. Kiefer (2017, S. 179) trägt einige elementare Kernsätze zum Bewusstsein und seiner Erforschung zusammen: Bewusstsein ist ein heterogener Begriff, der sich in verschiedene theoretische und empirische Aspekte teilweise widersprüchlich unterteilt. Das phänomenale Bewusstsein ist definiert als das individuelle Erleben mentaler Repräsentationen. Die Definition ist problematisch, da es sich um nur subjektiv erfahrbare Phänomene handelt. Das Zugriffsbewusstsein ist definiert als Zugriffsmöglichkeit übergeordneter, koordinierter und kontrollierter Verarbeitungsprozesse auf eine Repräsentation. Diese Erklärung ist vergleichsweise wenig problematisch, da sich das Zugriffsbewusstsein auf außenperspektivisch objektivierbare Sachverhalte bezieht. Gegenwärtig geht in der Bewusstseinsforschung die theoretische und empirische Ebene weit auseinander: Die meisten Bewusstseinstheorien sind zu allgemein formuliert und empirisch nicht überprüfbar, während empirische Untersuchungen häufig aus angrenzenden Forschungsgebieten kommen und daher meist ohne Bezug auf eine Bewusstseinstheorie durchgeführt wurden. Der größte Teil an menschlicher Informationsverarbeitung ist nicht bewusstseinsfähig, d.h. mit anderen Worten unbewusst. Deswegen werden hier durch Fonagy und Allison (2016, zitiert nach Kirsch, 2022, im Druck) drei Formen des Unbewussten unterschieden: 1. Nicht-bewusste Gehirnfunktionen: Es ist ein Merkmal der Gehirnfunktion, dass bestimmte Gehirnaktivitäten nicht mit Bewusstsein verbunden sind. Die unbewusste Gehirnfunktion ist allgemein anerkannt in der modernen Neurowissenschaft, um implizite, prozedurale Mechanismen zu beschreiben wie z.B. Autofahren als hochkomplexe, automatisierte aber wenig bewusste Tätigkeit. 2. Primäres Unbewusstes: Die nicht-bewussten Zustände von Fragmentierung und Bewusstseinsstörungen z.B. nach Traumatisierungen oder bei schweren Depressionen, die keine Intentionalität besitzen, werden als primäres Unbewusstes bezeichnet. In der normalen Entwicklung bleiben diese Inhalte für bewusstes Erleben unzugänglich. 3. Psychoanalytisches Unbewusstes: Sich aufdrängende, störende mentale Inhalte, die intentional sind, aber durch Abwehrmechanismen verzerrte Wahrnehmungen ausmachen, werden als psychoanalytisches Unbewusstes vom primären Unbewussten abgegrenzt |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Bewusstheit und Unbewusstheit (in allen drei der genannten Ausprägungen) stehen in engem Zusammenhang mit vielfältigen Ebenen der Adäquatheit von Verhalten. Die westliche Philosophie, Kultur, Erziehung, Bildung und Rechtsprechung gehen zumindest als Ausgangslage bei Erwachsenen davon aus, dass sie Handlungen rational im Bewusstsein ihrer sich daraus ergebenden Konsequenzen vornehmen. Kinder und Jugendliche sollen über Bildung und Erziehung in diesem Sinne Verantwortung für ihr Handeln übernehmen lernen. Die moderne Bewusstseinsforschung zeigt aber, dass weite Teile der Informationsverarbeitung eben nicht bewusstseinsfähig sind. Im Zusammenhang mit schwierigem Verhalten ist es immer wieder die Frage, ob Kinder und Jugendliche sich absichtlich, in vollem Bewusstsein also, nicht an Regeln/Erwartungen/Normen halten oder ob dies auch stark durch Formen des Unbewussten geprägt wird. Die Antwort liegt zweifelsfrei im Einzelfall und sicherlich gibt es durchaus bewusste Verhaltensprovokationen. Aber insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die aus kumulierten Hochrisikolagen stammen müssen beim Verstehen von auffälligem Verhalten das primär Unbewusste (Traumata) und das psychoanalytisch Unbewusste einbezogen werden. |
Grenzen | Der Einbezug des Unbewussten ist und bleibt eine kaum zu verifizierende Vermutung. Vermutungen sind per se nie absolut zu setzen und keinesfalls mit einer verifizierten Erklärung zu verwechseln. Um Unbewusstes im Verstehensprozess einbeziehen zu können, ist i.d.R. eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit andern Experten (Supervisor:innen, Psychotherapeut:innen, Psycholog:innen, etc.) erforderlich. |
Diagnostische Fragen im Zusammenhang mit der Theorie | - Welche Verhaltensformen lassen sich in Verbindung mit bewusstem Verhalten, nicht bewussten Gehirnfunktionen, dem primären Unbewussten und einem psychoanalytischen Unbewussten bringen? - Wie lassen sich diese Vermutungen mit Kenntnissen über biografische, entwicklungspsychologische und situative Episoden als Erklärung für auffälliges Verhalten in Verbindung bringen? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - Szenisches Verstehen - OPD - Projektive Verfahren |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Die Grundannahme, dass auch Unbewusstes das gezeigte Verhalten beeinflusst, eröffnet Räume für Hypothesen, Vermutungen, Ideen, Gespräche und konkretere Überlegungen. Kinder und Jugendliche benötigen deshalb verschiedene Angebote, um ihrem Bewussten und Unbewussten Ausdruck verleihen zu können. Dabei kommen alle Formen von Kunst, Bewegung/Sport, Schreiben, Gespräch und Spiel in Betracht. |
Kiefer M. (2017). Bewusstsein. In: Müsseler, J., Rieger, M. (eds) Allgemeine Psychologie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-53898-8_6
Fonagy, P., Allison, E. (2016). Psychic reality and the nature of consciousness. International Journal of Psychoanalysis 97:5-24.
Kirsch, H. & Brockmann, J. (2022). Ist das noch Psychoanalyse? – Anmerkungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Mentalisierung. In H. Kirsch, T. Nolte, & S. Gingelmaier, S., (Hrsg.) (im Druck). Soziales Lernen, Beziehung und Mentalisieren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg