Zitiervorschlag: Gingelmaier, S. (2020). „Abwehrmechanismen“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:verhalten:theorien_verhalten:abwehrmechanismen, CC BY-SA 4.0
Kurzbeschreibung | Das Konzept der Abwehrmechanismen geht auf Anna Freud (1994) zurück. Abwehrmechanismen werden als Schutzmaßnahmen verstanden, die dem Individuum unbewusst durch spezifische Formen des Widerstands dabei helfen, insbesondere das Ich und das Selbst vor bedrohlichen Konflikten zu schützen. Sie sind in diesem Sinne funktional, weil das Ich oder das Selbst diese mentalen Zustände als zu unpassend für das phänomenale Bewusstsein einstuft. Durch einen psychischen Abwehrmechanismus kann sich psychodynamisch verstanden ein bestimmtes mitunter ungewöhnliches oder auffälliges Verhalten aus unbewusstem Ursprung entwickeln. Es gibt eine große Menge an Abwehrmechanismen, die in die Alltagspsychologie übergegangen sind. Die Verdrängung wäre dafür ein Beispiel. Nachfolgend werden einige Abwehrmechanismen in Anlehnung an Schmitt & Altstötter (2010) genauer erklärt: Verschiebung Beispiel: Ein Angestellter fühlt sich von seinem Vorgesetzten, der ihn ständig wegen Kleinigkeiten rügt, ungerecht behandelt. Er setzt sich jedoch nicht gegen ihn zur Wehr, sondern kritisiert die Arbeit seines Praktikanten. Reaktionsbildung oder Verkehrung ins Gegenteil Beispiel: Eine Person, die viele Vorbehalte gegenüber Migranten hegt, sich aber auf politischer Ebene für ein Verbot rechtsradikaler Parteien stark macht. Projektion Beispiel: Eine verheiratete Frau fühlt sich von ihrem Schwager sexuell belästigt, obwohl dieser nichts mit ihr zu tun haben will. Dabei ist es vielmehr so, dass sie sich unbewusst in ihn verliebt hat. Dies kann nicht zugelassen werden, da sie ja verheiratet ist. Ihr eigener sexueller Wunsch wird auf den Schwager projiziert. Regression Beispiel: Ein Mann, dessen Computer zum wiederholten Mal streikt, beginnt zu weinen und diesen zu beschimpfen. Rationalisierung Rationalisierung ist ein Mechanismus durch den das Subjekt versucht, Verhaltensweisen, Gedanken, Gefühlen, usw., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logische oder moralisch akzeptable Erklärung zu geben. Beispiel: Eine Frau kann genau erklären, warum sie traurig ist und welche Affekttheorien zu ihren Erlebnissen passen, sie hat aber große Schwierigkeiten, traurig zu sein. Verleugnung Hier werden bestimmte Aspekte der Realität, die für andere offensichtlich sind, nicht anerkannt, z.B. weil sie sehr komplex, beängstigend und wenig beeinflussbar sind (z.B. eine Pandemie). Beispiel: Verleugnung ist ein häufiger Mechanismus in sogenannten Verschwörungstheorien. Rationale Erklärungen werden als falsch und infiltriert abgetan, es entwickelt sich eine verschobene oftmals irrationale Sicht auf Themen. Verdrängung Impulse (z.B. Affekte, Triebe, Konflikte, Zwischenmenschliches) werden verdrängt, d.h. unbewusst gemacht, weil die Inhalte nicht Bewusstseinskonform sind. Sie verlieren aber nicht ihre Energie, sondern evozieren Träume, Fehlleistungen oder Krankheitssymptome. Beispiel: Ein Mann verliebt sich in den Freund seiner besten Freundin, er kann die Verliebtheitsgefühle zu einem Mann aber nicht zulassen, träumt dafür aber häufig sehr real, dass die beiden ein Liebespaar sind. Die Träume beschämen und irritieren ihn, er fängt an, sich seiner Freundin gegenüber seltsam abweisend zu verhalten. Er kann dies aber nicht in einen Zusammenhang mit seinen Gefühlen bringen, da diese verdrängt sind und entwickelt in der Folge morgens häufig starke Kiefergelenksschmerzen. |
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Wie kann die Theorie beim Erklären von Verhalten helfen? | Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die dauerhaft auffälliges Verhalten zeigen, ist davon auszugehen, dass sich das Selbst und das Ich aufgrund von zum Teilen widrigsten Lebens- und Beziehungskonstellationen durch (unbewusste) Abwehr und Widerstand schützen müssen. |
Grenzen | Die Bedeutung des Abwehrkonzeptes außerhalb der Psychodynamik ist weiterhin umstritten. Es ist bisher keine ausreichende experimentelle Evidenz vorhanden (vgl. Mertens, 2014, S. 25). Als klinische oder pädagogische Denkfigur kann das Konzept der Abwehrmechanismen aber sehr hilfreich sein, um Verhalten zu verstehen. |
Diagnostische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Theorie | - Welches Verhalten von Kindern und Jugendlichen könnte im Zusammenhang mit (unbewussten) Abwehrmechanismen stehen? - Welche Abwehrmechanismen könnten dabei helfen, Verhalten zu erklären? |
Konkrete diagnostische Methoden im Zusammenhang mit der Theorie | - Projektive Verfahren - Szenisches Verstehen - Freies Spiel - Musisch-ästhetischer Ausdruck |
Impulse für die Gestaltung individueller Bildungsangebote | Akute Interventionen Zur Genese von Hypothesen über Abwehrmechanismen eignen sich am besten freie Anlässe wie freies Spiel, musisch-ästhetischer Ausdruck oder projektive Verfahren. Diese müssen in Formen der Reflexion später bedacht und validiert werden. Längerfristige Interventionen Es ist sinnvoll, im pädagogischen Alltag und vor allem in den wichtigen Formen der Reflexion zu überlegen, ob und wie Kinder und Jugendliche Abwehrmechanismen unbewusst einsetzen, um ihr Wohlsein und ihre psychische Gesundheit zu schützen. Kann eine pädagogische Atmosphäre kreiert werden, in denen Kinder und Jugendliche sich weniger schutzbedürftig fühlen? |
Freud, A. (1994). Das Ich und die Abwehrmechanismen (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuchverl.
Lohaus, A. & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendalters für Bachelor (4. Aufl.). Berlin: Springer-Verlag.
Mertens, W. (Hrsg.). (2014). Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (4. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Schmitt, M. & Altstötter-Gleich, Chr. (2010). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie kompakt. Weinheim: Beltz.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg