Zitiervorschlag: Rieß, A. (2020). „Bindungsstörung“. Abgerufen von Url https://www.wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d11, CC BY-SA 4.0
ICD 10
bzw. 11 |
F94.1 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters: Diese tritt in den ersten fünf Lebensjahren auf und ist durch anhaltende Auffälligkeiten im sozialen Beziehungsmuster des Kindes charakterisiert. Diese sind von einer emotionalen Störung begleitet und reagieren auf Wechsel in den Milieuverhältnissen.
F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung: Ein spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster, das während der ersten fünf Lebensjahre auftritt mit einer Tendenz, trotz deutlicher Änderungen in den Milieubedingungen zu persistieren.
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Statistik |
35% - 40% der Säuglinge zeigen unsichere Bindung
15% der Kinder zeigen hochunsichere Bindung
Eine Bindungsstörung entsprechend der ICD 10 liegt wohl in folgender Verteilung vor: 1% aller Kinder, 10% der älteren Heimkinder, 25% der Pflegekinder, 40% der misshandelten Kinder
Kinder von Müttern (Vätern) mit sicherer Bindung haben zu 75% (65%) ebenfalls sichere Bindung
60 - 65% der Gesamtbevölkerung zeigen eine sichere Bindung
20 - 25% der Gesamtbevölkerung zeigen ein unsicher – vermeidendes Bindungsmuster
5 – 10% der Gesamtbevölkerung zeigen ein ambivalent – vermeidendes Bindungsmuster
10 – 15% der Gesamtbevölkerung zeigen ein desorganisiertes Bindungsmuster
Zum Teil autoaggressive und selbstverletzende Verhaltensweisen
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Ursachen und Risikofaktoren |
Themenfeld: Biografische Entwicklung:
Erlebnisse insbesondere in den ersten 12 Monaten: Vernachlässigung, Misshandlungserlebnisse, Missbrauchserlebnisse, Multiple Traumatisierungen, häufiger Wechsel von Bezugspersonen, multiple Verluste von Personen
Bindungserfahrungen der Eltern
Unverarbeitete Traumata der Eltern, wodurch z.B. das Schreien des Kindes zu einem Trigger für unpassende Gefühle wird und damit zu einer nicht bindungsfördernden Interaktion führt.
Themenfeld: Familiendynamik:
Ängstliche Verhaltensweisen in der Familie
Hilfloses Pflegeverhalten
Unklare, unzuverlässige, keine oder schädliche Interaktionen
Zurückweisungen
Fehlende Feinfühligkeit: Wahrnehmung des Verhaltens, stimmige Interpretation von Verhalten, fehlende unmittelbare Reaktion und damit erleben von Selbstwirksamkeit, fehlende angemesse Reaktion, fehlende konstante Reaktion
Trennung der eigenen Gefühle von den Gefühlen vom Kind.
Ungenügend feinfühliger Umgang mit dem Kind
Themenfeld: Selbst:
Themenfeld: Individuelle Voraussetzungen:
Themenfeld: Gesundheit:
Themenfeld: (vor-) schulischer Kontext:
Themenfeld: Peerbeziehung:
Themenfeld: weiteres soziales Umfeld:
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Komorbidität |
… |
Symptome |
Unsichere Bindungen sind durch Abwehr, Aggression und/oder Ängstlichkeit und Passivität geprägt.
Jugendliche mit gestörter Bindung erleben sich ambivalent zwischen der Sehnsucht nach Nähe und Zugehörigkeit bzw. kompletter Abwehr der Zugehörigkeit und dem Streben nach Autonomie.
Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Überzogen cooles Auftreten zum Überspielen von geringem Selbstwertgefühl
Wahllos positiver affektiver Austausch, keine gefühlte zuverlässige Zugehörigkeit, Distanzlosigkeit und wahlloses Vertrauen gegenüber Fremden
Überangepasstes Verhalten bis hin zur Unterwerfung
Versucht Personen ganz für sich einzunehmen
Jugendlicher klebt an Bezugsperson
Unrealistische Größenfantasien („Ich bin der beste Fußballspieler der Klasse!“)
Niedergeschlagenheit/ Traurigkeit/ Selbstzweifel/ Angst
Starke Identifikation mit Vorbildern z.B. Rappern
Abwehr von Zugehörigkeit
Starke Abwehr von Kontakten, starke soziale Hemmung
Schwierigkeiten sich jemanden zu nähern oder zu öffnen
Mangelnde Trostsuche bei Bedürftigkeit
Oppositionelles bzw. aggressives Verhalten
Kaum erreichbar über Strafmaßnahmen
Sozialer Rückzug
Sich unsichtbar – Machen
Dominant – bestrafendes Verhalten gegenüber Bezugspersonen
Extremes Explorationsverhalten, weglaufen, streunen
Unsicher – vermeidende Bindung
Gefühle werden durch Verstand abgewehrt
Gefühle werden wenig gezeigt
wenig Suche nach Nähe
Vermeidung von Auseinandersetzungen
weniger Hilfe suchend
Selbstbild ist idealisiert
betroffene Jugendliche zeigen eher Täterverhalten
Unsicher – ambivalente Bindungen
niedriges Selbstwertgefühl
weniger Umsetzung eigener Vorstellungen und Wünsche
Überanhänglichkeit und Abhängigkeit
beständiges Zuwenden und Hilfesuchen
beständig das Gefühl zu wenig zu bekommen
Jugendliche machen eher Opfererfahrungen
Unsicher – desorganisierte Bindung
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Intervention allgemein |
Psychotherapien
Sind erst dann sinnvoll, wenn eine sichere Umgebung für das Kind oder Jugendlichen gewährleistet ist
Therapieformen sind meist Eltern – Kind Trainings
Es gibt noch keine Therapieform, die hinreichend Erfolge bei Jugendlichen mit gestörter Bindung verspricht.
Kontexte gestalten
Tagesstruktur, Routine
Grenzsetzung, Führung (wenige klare Grenzen setzen)
Positive Verstärkung
Strafen vermeiden, logische Konsequenzen nutzen
Weniger aus persönlicher Betroffenheit reagieren
Bindungspersonen
Kleine Gesten der Zuwendung geben, auch wenn es gerade keiner Aufmerksamkeit bedarf
Anhaltender Strom positiver Rückmeldung auf persönlicher Ebene
Konstante zuverlässige langfristige (Haupt) Bezugspersonen
Professionelle Rollensicherheit: Eigene Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen hinterfragen, eigene Themen in Konfliktsituationen hinterfragen, Selbstkontroll- und Distanzierungstechniken, stabil, emotional belastbar
Betroffene Jugendliche erwarten: „Sei immer klüger, größer, stärker und liebenswürdiger als ich.“
Wissen um die eigene Bindungsbedürfnisse
Geduld, Ausdauer, Beständigkeit
Perspektivwechsel einnehmen lassen, um Beziehungen zu einer Peer zu entwickeln
Beziehungsgestaltung
Kennen der grundlegenden Ambivalenzen in der Beziehungsgestaltung des Betroffenen
Beziehung suchen, auch wenn Zuwendungen abgewiesen werden (Professionelle Nähe)
Anerkennung des hohen Sicherheits- und Kontrollbedürfnisses
Flexibel zwischen Grenzsetzung und Gewährenlassen pendeln
Keine leeren Versprechungen z.B. „ Ich bin immer für dich da“.
Gemeinsame Aktivitäten finden
Elternarbeit
Sensibilisierung für Bindungsprozesse bei allen Beteiligten
Ausbau elterlicher Feinfühligkeit
Ausbau vorhandener Eltern – Kind – Beziehung
Motivation der Eltern fördern, neue Bezugspersonen für das Kind anzuerkennen
Lösung von aktuellen Problemen
Aufbau von Selbstwirksamkeitserleben und Verantwortungsübernahme
Aufbau von Selbstakzeptanz
Wahrung der eigenen Grenzen und Selbstfürsorge der Eltern
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Literatur
Baierl, M. (2017). Herausforderung Alltag – Praxishandbuch für pädagogische Arbeit mit psychisch gestörte Jugendlichen. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.
Brisch, K.H. (2009). Bindungsstörung. Stuttgart: Klett Cotta.
Köhler – Saretzki (2014). Sichere Kinder brauchen starke Wurzeln – Wegweiser für den Umgang mit bindungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen. Idstein: Schulz – Kirchner Verlag GmbH.
Grossmann K., Grossmann K. (Hrsg.) (2003). Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart: Klett Cotta.
Omer H.; Schlippe A. von (2012). Autorität ohne Gewalt Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. „Elterliche Präsenz“ als systemisches Konzept. Göttigen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg