Zitiervorschlag: Rieß, A. (2020). „Selektiver Mutismus“. Abgerufen von Url https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:werkzeug:verhalten:themen:themenfeld5:d06, CC BY-SA 4.0
ICD 10
bzw. 11 |
F94.0 Elektiver Mutismus (heute in der Literatur meist selektiver Mutismus genannt)
Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens und der Kommunikation charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht und kommuniziert, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.
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Statistik |
ca. 0,7% aller Kinder sind vom selektiven Mutismus betroffen (Brown 2005, Schwarz & Shipon-Blum 2005).
Darunter sind überproportional viele Mädchen (Schoor 1995, Bahr 1996).
Das Schweigen tritt zu 79% im Vorschulalter, in der Regel mit 3 Jahren erstmals auf
große Gruppe der Kinder mit selektivem Mutismus stammt aus Immigrantenfamilien und wächst zwei- oder mehrsprachig auf (vgl. Bradley & Sloman 1975, bzw. Kracht/Schümann 1997)
Mädchen sind 1,5 Mal so häufig betroffen wie Jungen
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Ursachen und Risikofaktoren |
Es können keine monokausalen Zusammenhänge der einzelnen Risikofaktoren beschrieben werden. Es wird zwischen verursachenden Bedingungen, auslösenden Bedingungen und aufrechterhaltenden Bedingungen unterschieden (Schmidt- Traub 2019)
Biografische Entwicklung
Isolation des Kindes
Migration
schlechte sozio-ökonomische Lage
traumatisierende Einzelerlebnisse
verzögerter Sprechbeginn
Krankheiten im Säuglingsalter
Zweisprachigkeit
Häufig wechselnde Wohnorte
Familiendynamik
Erlebnisse in der Kindheit
Trennungserlebnisse (Ehekrisen und Scheidung)
Familiäre Disharmonien
Dominierende bzw. unterdrückende Kommunikationsstrukturen in der Familie
Symbiose zwischen Elternteil und Kind
Überbehütung durch die Mutter
Stress durch verzögerte Sprachentwicklung des Kindes und nicht hilfreiche Reaktion darauf
Lerneffekte durch positive Konsequenzen (vermehrte Aufmerksamkeit, Überbehütung, Sonderstellung)
Selbst
Individuelle Vorrausetzung
Mehrsprachigkeit
Motorische Auffälligkeiten
Störungen im Bereich der Sprachentwicklung (Aussprache, Grammatik, Wortbedeutungsentwicklung)
Gesundheit
Genetische Disposition
Häufige Angstgefühle
Weiteres soziales Umfeld
„Im Einzelfall vorhandene Risikofaktoren, die das Kind bereits mit auf die Welt bringt (z.B. erbliche Veranlagung zur Schüchternheit und /oder Schädigungen vor, während oder unmittelbar nach der Geburt) treffen mit ungünstigen Anpassungsstil (z.B. verminderter Aktivität, Schwierigkeiten bei Reizverarbeitung) und mit anderen Stressquellen (z.B. Trennungserfahrungen, verzögerter Stressentwicklung) zusammen. Hinzu kommt, dass die von außen bereitgestellte Unterstützung vielfach unpassend und von den Eltern schwer zu regulieren ist (z.B. Überbehütung und Fernhalten von Anforderungen, die bewältigt werden könnten). Als Folge dieser Entwicklungserfahrung entwickelt das Kind Ängste, seien engen Erfahrungshorizont zu verlassen. Im selektiven Schweigen findet es eine subjektiv sinnvolle Form der Bewältigung, mit der es einerseits die Bindung an das Vertraute absichert, ohne sich andererseits gegenüber dem Umfeld sprachlich öffnen zu müssen.“ (Bahr 2012) |
Komorbidität
je nach Quelle |
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Symptome |
Nicht-Sprechen unter bestimmten Bedingungen („Sprache im engeren Sinne“)
Kommunikationsabbruch unter bestimmten Bedingungen („Sprache im weiteren Sinne“)
Kind spricht in bestimmten Situationen nicht, zu Hause und mit vertrauten Personen spricht es „normal“
Zu Hause: manchmal sehr expressiv
Das Schweigen besteht länger als 4-8 Wochen
„blanker“ Gesichtsausdruck, starre Lippen (kein Lächeln), starrer Blick
Wirkt wie eingefroren/ versteinert
Steifer Körper, angelehnte Arme, evtl. Hände kneten
Schwierigkeiten in Kontakt zu treten, Reaktionen erfolgen verzögert
Hohe Sensibilität auf allen Ebenen
Lautäußerungen wie Räuspern oder Lachen findet ebenfalls nicht statt
Mimik wirkt distanziert und der Mund ist geschlossen
Körpersprache zeichnet sich durch Gehemmtheit und Angst aus
Schweigen geht mit einem sozialen Rückzug einher
Häufig gute Beobachtungsgabe
Kann z.T. eigene Gefühle nicht ausdrücken
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Intervention allgemein |
Therapeutische Ansätze:
Die Behandlung/Therapie richtet sich nach der primären Ätiologie. Aufgrund der Gefährdung einer gesamtpersonalen Entwicklungshemmung sollte frühzeitig mit einer Mutismus-spezifischen Therapie begonnen werden, um die Betroffenen in die sprachliche und soziale Gemeinschaft zu (re-)integrieren.
Bsp.: Psychiatrische Behandlung; Psychologische Behandlung (Spieltherapie); Sprachtherapeutische Behandlung
Verhaltenstherapie in Bezug auf 1. Gedanklicher Ebene, 2. körperlicher Ebene, 3. Verhaltens Ebene
Beobachtung des unfreiwilligen Schweigens und Aufbau von Veränderungsbereitschaft
Bearbeitung von ängstlichen und anderen negativen Gedanken
Entspannung von Körper und Kehlkopf
Konfrontation mit Angst und Sprechversuchen in Selbsthilfe und Therapie
Pädagogische Interventionen:
Einstellung:
Das Nichtsprechen nicht persönlich nehmen
Das Nichtsprechen als aktives Handeln erkennen, das früher einen brauchbaren Zweck für das Kind / den Jugendlichen erfüllt hat.
Das Schweigen kann von den Betroffenen nicht ohne weiteres aufgegeben werden, da es über Jahre hinweg entwickelt und aufrechterhalten wurde und zur Persönlichkeit gehörte.
Nicht zum Sprechen auffordern oder gar drängen. Die Erfahrung des „Versagens“, des Nicht- Antworten- Könnens machen die Kinder ohnehin viel zu häufig.
erste Äußerungen des Kindes nicht hervorheben
Achtsam sein und Atmosphäre schaffen:
Bewusstes präsent sein für das Kind
Eigene Wahrnehmung für die Kommunikationsformen des Kindes schulen
Sich nicht von vorschneller Kategorienbildung leiten lassen
Ein Verständnis unter den Mitschülern entwickeln: „Zu Hause spricht…ganz normal. Das wird sie auch bald in der Schule schaffen!“
Beziehungsaufbau beim Hausbesuch
Digitale Medien zur Kommunikation nutzen
das Kind nicht in den Mittelpunkt stellen
auffordern an allen Klassenabläufen teil zu nehmen
Emotionale Unterstützung geben:
Ängstlichkeit des Kindes Mut entgegensetzen
Nicht fordern zu sprechen, sondern Kommunikation auf allen Ebenen gestalten.
Sich dem Kind zu seinen eigenen Gedanken, Gefühlen, Eigenarten und Vorlieben öffnen
Kommunikative Zugänge finden:
Nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten suchen und nutzen: Gestik, Mimik, Blickkontakt, Bewegung im Raum
Sehen, Tasten und Fühlen verstärkt nutzen
Fingerschnipsen, Klatschen, Stampfen
Vom Stillen zum gesprochenen Dialog:
Geräusche machen im Spiel (Ausatmen/ Plosivlaute/ einzelnen Vokale die Stimmung ausdrücken)
Gemeinsam Malen/ Aufbauen/ Kochen/ Backen/ Musik machen
Kopfnicken (Ja/ Nein)
Verbal sprachlich (Ja/ Nein)
Körperliche Verkrampfungen lösen:
Bewegungsspiele
Bewegungslandschaften
Rollbretter/ Trampolin etc.
Schaukeln, hüpfen, balancieren etc.
Malen, Basteln, Gestalten
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Literatur
Bahr, R. (2012). Wenn Kinder schweigen; Redehemmungen verstehen und behandeln Ein Praxisbuch. Patmos Verlag 5. Auflage.
Bahr, R. (2006). Schweigende Kinder verstehen, Kommunikation und Bewältigung beim selektiven Mutismus. 4. Auflage.
Schmidt–Traub, S. (2019). Selektiver Mutismus. Informationen für Betroffene, Angehörige Erzieher, Lehrer und Therapeuten. Hogrefe.
Schmidt- Traub , S. (2017). Kognitive Verhaltenstherapie bei Ängsten im Kindes- und Jugendalter. Ein Leitfaden für die Behandlung von Panikstörung, Agrophobie, spezifische Phobien und Trennungsangst. Hogrefe.
Manfred Grohnfeldt (2007). Mutismus. In: Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer.
Beerbom, C.; Netzwerk Schule und Krankheit; Bundesverband Aphasie e. V. (2010). Handreichung Schülerinnen und Schüler mit chronischen Erkrankungen. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM).
https://www.selektiver-mutismus.de/
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