Selbstbestimmung und Selbstständigkeit

Zitiervorschlag: Buck, V., Geurds, P. (2024). „Selbstbestimmung und Selbstständigkeit.“ Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:selbststaendiges_leben:theorien:selbstbestimmung_selbststaendigkeit

Selbstbestimmung bezieht sich auf die Fähigkeit und das Recht von Menschen, Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen und aktiv an der Gestaltung ihrer Lebensumstände mitzuwirken. Es stellt ein politisches Recht dar „[…], das jedem Menschen unabhängig von Art und Ausprägung seiner Behinderung zusteht“ (Lindmeier/Lindmeier 2012, 160). Selbstbestimmung umfasst die Möglichkeit, eigene Ziele zu setzen, Bedürfnisse und Wünsche zu äußern sowie in Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden, die das eigene Leben betreffen und die Lebensqualität verbessern.

Selbstbestimmung als eine wichtige Leitidee der Sonderpädagogik ist unbestritten. Dennoch darf sie, auch wenn sie als fundamentales Merkmal menschlicher Wirklichkeit gilt, nicht absolut gesetzt werden. Das „Verwiesen Sein des Menschen auf den Anderen, d.h. auf soziale Bezüge“ stellt ein weiteres, zweites Grundmerkmal dar (vgl. Weiß 2000, 137).

Diese soziale Orientierung als eine Fähigkeit und Bereitschaft von Menschen, sich an anderen Personen und sozialen Normen zu orientieren und aktiv darin zu interagieren, ist nicht nur ein ergänzender Aspekt, sondern eine notwendige Bedingung für Selbstbestimmung. Eine wesentliche Voraussetzung für eine „freiwillige“ und somit selbstbestimmte soziale Orientierung ist dabei die Erfahrung, dass eigene Intentionen und Bedürfnisse von anderen (an-)erkannt und ernst genommen werden (vgl. Klauß 2007).
Ziel von Selbstbestimmung ist daher nicht das Herauswachsen aus sozialen Beziehungen, sondern das immer aktiver und selbstständiger (autonomer) werden in ihnen. Die menschliche Existenz steht lebenslang in diesem „spannungsvollen Zusammenhang von Autonomie und Abhängigkeiten, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“ (vgl. Weiß 2000, 121ff).
Selbstbestimmung kann somit kein ausschließlich individueller Prozess sein oder ausschließlich als eine Eigenschaft bzw. Fertigkeit bezeichnet werden, sondern ist stets ein „relatives Konzept“ (vgl. Weingärtner 2013; Klauß 2007).

Selbständigkeit kann beschrieben werden als die Fähigkeit, Handlungen eigenständig durchzuführen, wobei die Festlegung von Zielen und deren Bewertung jedoch von anderen übernommen werden kann (auch „Ausführungsselbständigkeit“ genannt) (vgl. Klauß 2007).

Im Gegensatz dazu bedeutet Selbstbestimmung, wie oben bereits aufgezeigt, dass eine Person eigene Motive entwickelt, sich selbst Ziele setzt, Pläne schmiedet und die Ergebnisse ihres Handelns selbst bewertet. Dennoch werden die Begriffe Selbstbestimmung und Selbstständigkeit gelegentlich quasi analog verwendet. Ein Blick auf Assistenzkonzepte zeigt, dass aus einem hohen Maß an Abhängigkeit oder Unterstützungsbedarf im Sinne von reduzierter Selbstständigkeit jedoch nicht zwangsläufig ein geringes Maß an Selbstbestimmung resultieren muss. Im Gegensatz dazu kann auch ein hoher Grad an Selbstständigkeit bei zeitgleichem hohen Maß an Fremdbestimmung möglich sein.

Klauß (2007) unterscheidet zwei Formen von Selbstbestimmung:

  1. Wenn Bedürfnisse ohne fremde Hilfe erfüllt werden können, gehen Selbstbestimmung und Selbständigkeit Hand in Hand: Man möchte etwas und führt es selbst aus.
  2. Sind jedoch andere Personen zur Befriedigung von Bedürfnissen notwendig, bedeutet Selbstbestimmung, dass diese Bedürfnisse den anderen mitgeteilt werden und diese sich darauf einlassen.

Die Befriedigung solcher Bedürfnisse setzt voraus:

Dies gilt grundsätzlich, ist aber besonders bedeutsam für Menschen, die umfassend auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind (vgl. Klauß 2007, 5ff).

Selbstbestimmung ist weit mehr als das bloße Entscheiden zwischen zwei Alternativen. Es geht um einen Prozess, in dem die eigenen Bedürfnisse mit den Möglichkeiten der sozialen Umwelt fortlaufend abgeglichen und so weit wie möglich durchgesetzt werden können. Damit ist Selbstbestimmung immer auch verbunden mit Bildung. Erst, wenn Alternativen bekannt sind, ist es möglich, sich tatsächlich für etwas zu entscheiden. Selbstbestimmung bietet daher ein wichtiges Kriterium zur Bewertung der Qualität pädagogischer Bildungsangebote (vgl. Lamers et al. 2021).


Literatur

Lamers,W./ Musenberg, O./ Sansour, S. (Hrsg.) (2021). Qualitätsoffensive - Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung. Grundlagen für die Arbeit in Praxis, Aus- und Weiterbildung. Bielefeld: Athena.

Lindmeier, B./ Lindmeier, C. (2012). Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Band 1: Grundlagen. Stuttgart: Kohlhammer.

Lindmeier, B./Meyer, D.(2020). Empowerment, Selbstbestimmung, Teilhabe – Politische Begriffe und ihre Bedeutung für die inklusive politische Bildung. S.38-56 in: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.). Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung.Bonn

Klauß, T. (2007). Selbstbestimmung als Leitidee der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung. Abgerufen von: https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/user_upload/wp/klauss/Selbstbestimmung.pdf (04.11.2024)

Weingärtner, C. (2013). Schwer geistig behindert und selbstbestimmt. Eine Orientierung für die Praxis. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Weiß, H. (2000). Selbstbestimmung und Empowerment. Kritische Anmerkungen zu ihrer oftmaligen Gleichsetzung im sonderpädagogischen Diskurs. In: Färber, H.P./ Lipps, W./ Seyfarth, T. (Hrsg.). Wege zum selbstbestimmten Leben trotz Behinderung. Tübingen: Attempto, 119–143.


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