Die Arbeiten Piagets widmen sich nicht der Frage des Lesens von Bildern, Ikonischen Zeichen und Symbolen. Dennoch bieten die Erkenntnisse Piagets über die kognitive Entwicklung von Kindern Anhaltspunkte dafür, die beobachtbaren Aktivitäten von Schüler:innen im Rahmen der kognitiven Entwicklung einordnen zu können. Der Leselernprozess kann dabei den Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget zugeordnet werden (vgl. die Grafik in Anlehnung an Kochs revidiertes Modell des erweiterten Lesens)
Unter den erweiterten Lesebegriff fasst man nach Hublow (1985) das Wahrnehmen, Deuten und Verstehen von bildhaften und symbolhaften oder abstrakten Zeichen und Signalen, die sprachfrei oder sprachgebunden sein können. Dieser Grundgedanke wurde von Koch (2008) in Anlehnung an das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs von Günther (1995) in einem Modell des erweiterten Lesens revidiert.
Koch unterteilt in seinem Modell die präliteral-symbolische Phase und die logographemische Phase in zwei Stufen, die jeweils für sich nochmals genauer ausdifferenziert werden. Grundsätzlich erhöht sich die Schwierigkeit durch eine abnehmende Ähnlichkeit der Darstellung des bezeichneten Objektes.
Das Stufenmodell des erweiterten Lesens ist als hierarchische Entwicklung zu verstehen. Die Abbildung des Stufenmodells nach Koch zeigt, wie unterschiedlich die Abstände zwischen den Stufen einzuschätzen sind. Als erster wesentlicher Meilenstein gilt das Verständnis der semiotischen Funktion. Auch Koch geht davon aus, dass das Kind dazu Objektpermanenz, Erkennen von Mittel-Zweck-Beziehungen und verzögerte Nachahmung entwickeln muss.
Hierbei handelt es sich um das Lesen von konkreten Abbildungen mit größtmöglicher Ähnlichkeit zur bezeichneten Person, zu einem Objekt oder einer Situation in Form von Fotos oder Zeichnungen.
Ikonische Zeichen haben ein gewisses Maß an Ähnlichkeit mit der bezeichneten Sache. Sie stehen dazu unmittelbar wahrnehmbar in einer Beziehung. Der Grad der Ähnlichkeit kann variieren. Koch unterscheidet daher innerhalb der Stufe zwischen dem Lesen von Bildern und anderen ikonischen Zeichen, obwohl hier „nur marginal steigende und schwer voneinander abzugrenzende Anforderungen bestehen“ (Ratz 2013, 348).
Symbole sind willkürlich festgelegte Zeichen ohne Ähnlichkeit mit der bezeichneten Sache. Als eine Form des Symbollesens sieht Koch auch das logographische Lesen. Hier wird das Wort rein visuell aufgrund optischer Merkmale erkannt. Das Lesen von Symbolen stellt eine deutlich höhere Anforderung dar.
Ungelöst bleibt die zeichentheoretische Fragestellung, wo genau die Grenze zwischen symbolischer und ikonischer Darstellung verläuft. „Wann verliert ein Zeichen die Ikonizität und wird zum Symbol oder wie sind Zeichen mit gleichzeitig ikonographischen und symbolischen Elementen einzuordnen? Von daher ist die klare Trennung zwischen Symbollesen und dem Lesen von ikonischen Zeichen im erweiterten Stufenmodell des Schriftspracherwerbs vorrangig aus darstellungstechnischen Gründen zu sehen“ (Koch 2008, 49f).
Diese beiden Stufen beschreibt Koch analog zu Günther. Das Kind entdeckt nun die Graphem-Phonem-Korrespondenz. Beim Lesen werden nun einzelne Phoneme lautierend aneinandergereiht. Auf diese Weise können nun erstmals auch neue, unbekannte Wörter erfasst werden. Das orthographische Lesen ist gekennzeichnet durch das Erfassen subsilbischer Einheiten auf einen Blick und geht mit einer deutlich höheren Lesegeschwindigkeit einher.
Der erweiterte Schreibbegriff umfasst alle grafischen Möglichkeiten, mit denen sich ein Mensch verständlich machen kann. Folglich umfasst der Begriff des Schreibens nach Günthner (ebd., 82ff) die folgenden Handlungen:
In diesem Stadium werden ohne zweckvolle Absicht aus Freude und Erstaunen über die eigenen Fähigkeiten ungeordnete Hieb-, Schwing- und Kreisspuren auf einer Oberfläche hinterlassen. Mit der Zeit wird allmählich eine Verknüpfung zwischen der Tätigkeit und dem entsprechenden Produkt hergestellt. Die Symbol- und Kommunikationsfunktion werden nicht beachtet.
Es wird bewusst und absichtsvoll die Schreibhandlung von Vorbildern nachgeahmt und dabei bereits die Linearität, Horizontalität und Regelmäßigkeit der Schrift beachtet und imitiert. Dieses Schreiben kann bereits kommunikativen Charakter annehmen. Bedeutungen werden ausgedacht und sollen von Erwachsenen aus den Kritzeleien herausgelesen werden.
„Die grafischen Grundformen […] entwickeln sich und werden vom Kind miteinander kombiniert“ (ebd., 85). Erste Zeichnungen und Bilder entstehen zum Selbstzweck oder aber, um sich mitzuteilen. Fast alle Menschen in unserem Kulturkreis beginnen mit der Darstellung von „Kopffüßlern“, Fahrzeugen, Tieren und Häusern (ebd., 86).
Aus Spaß und zum Zweck der Mitteilung werden Buchstaben, buchstabenähnliche Gebilde und Ziffern für Außenstehende scheinbar willkürlich aneinandergereiht und eventuell mit Zeichnungen kombiniert. Die Phonem-Graphem-Korrespondenz ist noch nicht bewusst, wohl aber, dass über Buchstaben Bedeutungsinhalte vermittelt werden können. Das Schreibgerät wird mit dem Dreifingergriff gehalten.
Die Phonem-Graphem-Korrespondenz ist bewusst und wird bei allen Wörtern angewandt. Da die Schriftsprache die Lautsprache jedoch nicht nur nach dem phonetischen Prinzip abbildet, treten noch viele Schreibfehler auf. Die Feinmotorik ist ausgebildet für intentionale, problemlose Bewegungsabläufe.
Die bisherige Darstellung war stark fokussiert auf graphomotorische Leistungen. Mit dem Schreiben anhand vorgefertigter Wort- und Bildkarten betont Günthner nochmals, dass prinzipiell alle Arten von hinterlassenen Spuren auf eine Schreibhandlung zurückgehen. Vorgefertigte Bild- und Wortelemente eignen sich v.a. für Schüler mit graphomotorischen Schwierigkeiten, um sich relativ rasch durch Schreiben auszudrücken. Das Verfahren hat daher v.a. didaktische Bedeutung für den Unterricht (vgl. auch Günthner 1995).
Bereits Thamm (1999) kritisierte den Begriff des Situationslesens und argumentierte mit zeichentheoretischen Überlegungen, da in der Situation keine Leistungen des Dekodierens erforderlich sind. Thamm schlägt daher vor, das Situationslesen als Vorstufe zum Lesen und Schreiben von Bildern, Ikonischen Zeichen und Symbolen aufzufassen.
Das Situationslesen ist nach Ratz (2013) zu weit entfernt von Anforderungen des Lesens, als dass es sinnvoll in ein Entwicklungsmodell des Lesens integriert werden könnte.
In der WSD wird das Situationslesen daher nicht dem Zweig Lesen und Schreiben zugeordnet.
Zum erweiterten Lese- und Schreibbegriff bei Kindern und Jugendlichen mit einer Funktions-beeinträchtigung des Sehens siehe auch bei Brailleschrift.
Günther, K. B. (1995). Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In Balhorn, H.& Brügelmann, H. (Hrsg.), Rätsel des Schriftspracherwerbs: Neue Sichtweisen aus der Forschung (S. 98-121). Lengwil: Libelle.
Günthner, W. (1999). Lesen und Schreiben an der Schule für Geistigbehinderte: Grundlagen und Übungsvorschläge zum erweiterten Lese- und Schreibbegriff. Dortmund: Verlag modernes lernen.
Hublow, C. et al. (1978). Lesenlernen mit Geistigbehinderten. Zeitschrift für Heilpädagogik, 29/1, 23-28.
Hublow, C. (1985). Lebensbezogenes Lesenlernen bei geistig behinderten Schülern. Geistige Behinderung, 24/2, Praxisteil.
Hublow, C. (1977). Lesenlernen – ein heißes Eisen? Lebenshilfe 16/4, 200-210.
Gage, N. L. & Berliner, D. C. (1988). Pädagogische Psychologie. Weinheim und Basel: Beltz
Koch, A. (2008). Die Kulturtechnik Lesen im Unterricht für Schüler mit geistiger Behinderung: Lesen lernen ohne Phonologische Bewusstheit?. Gießen: Justus-Liebig-Universität Gießen. Verfügbar unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/6247/.
Ratz, C. (2013). Zur aktuellen Diskussion und Relevanz des erweiterten Lesebegriffs. Empirische Sonderpädagogik 4, 343-360.
Thamm, J. (1999). Fachdidaktische Grundlagen. In Schurad, H., Schumacher W., Stabenau, I. & Thamm, J. (Hrsg.), Curriculum Lesen und Schreiben für den Unterricht an Schulen für Geistig- und Körperbehinderte (S. 43-69). Oberhausen: Athena
Bolay, Frindt, Klingler-Neumann, Dürrmeier, Albrecht, Gischas