Zitiervorschlag: Wahl, B., Lang, M. (2021). „Stufenmodell zur Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien nach Günther adaptiert an Brailleschrift“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:lesen_schreiben:guenther_braille, CC BY-SA 4.0
Das Modell von Günther kann grundsätzlich auch beim Braille-Schriftspracherwerb zugrunde gelegt werden, da die Punktschrift weitgehend über dieselben Regeln wie die Schwarzschrift verfügt (Zur Übertragung des Günther-Modells auf den Schriftspracherwerb blinder Kinder siehe Lang 2011.). Diese Stufen sind beim Braille-Schriftspracherwerb nicht als starre, strikt aufeinanderfolgende Entwicklungsschritte zu verstehen, sondern als Orientierungsrahmen, der individuelle Ausprägungen zulässt.
Die Entwicklung der Schriftsprache erfolgt nach Günther (vgl. Steinbrink 2014) in folgenden Stufen:
Jede Entwicklungsstufe zeichnet sich durch das Anwenden bestimmter Strategien beim Lesen und Schreiben aus. Dabei ist bei allen Phasen der Entwicklung zu beachten, dass die Begegnung mit Punktschrift allen blinden Kindern erschwert ist. Während sehenden Kindern Schrift, Symbole, Bilder… nebenbei „ins Auge fallen“, benötigen blinde Kinder den Hautkontakt um Bilder, Symbole und Schriftzeichen zu entdecken. Dies erfordert eine anregungsreiche Umgebung, in der Brailleschrift zu finden ist und Schriftbegegnung angeregt und begleitet wird. Auch das Erkennen taktiler Bilder, Symbole und Reliefabbildungen stellt eine höhere Anforderung dar und muss pädagogisch begleitet werden.
Die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen sind fließend und Strategien, die in vorherigen Stufen im Zentrum der Entwicklung standen, können durchaus auch in darauffolgenden Stufen noch gelegentlich gezeigt werden. Genauso kann ein Kind ab und zu bereits eine Strategie aus einer späteren Stufe anwenden, ohne dass dies zwangsläufig heißt, dass das Kind diese Stufe bereits erreicht hat.
In der präliteral-symbolischen Stufe lernen blinde Kinder die Bedeutung von Zeichen und Schrift als Informationsträger kennen und ahmen den Lese- und Schreibprozess nach. Taktile Bilderbücher mit Punkt- und Schwarzschrift unterstützen den Schriftkontakt und bieten in Vorlesesituationen die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Kind ein Buchkonzept zu erarbeiten, Bilder und Symbole zu ertasten und die Lesebewegung beim Punktschriftlesen zu entdecken. Kritzeltätigkeiten können ebenfalls gezielt angebahnt werden und mit Hilfe von Punktschriftmaschine und taktiler Zeichenfolie für das Kind erfahrbar gemacht werden.
Blinde Kinder lernen mit Hilfe initiierter und pädagogisch gestalteter Schriftbegegung zwischen Brailleschrift und anderen taktilen Texturen zu differenzieren. Das Erkennen von Ganzwörtern (z.B. dem eigenen Namen) und einzelner Buchstaben sind in der logographemischen Phase möglich. Die logographemische Strategie, Buchstaben abzumalen ist für blinde Kinder nicht möglich, da das Erschließen der Schreibung eines Buchstabens in Brailleschrift aufgrund eines Tasteindrucks nicht möglich ist. Somit findet kein logographemisches Schreiben statt.
Die alphabetische Phase – die Erarbeitung einer Graphem-Phonem-Korrespondenz und damit das synthetisierende Lesen und phonetische Schreiben ist blinden Kindern voll zugänglich, wenn sie die Tastenkombinationen für Buchstaben an der Punktschriftmaschine erworben haben. Das Schreiben der Buchstaben wird durch den Zugriff auf die im motorischen Gedächtnis gespeicherte Schreibtätigkeit erleichtert.
In der orthographischen Phase werden Silben, Buchstabenkombinationen und Wörter aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen. Die Regelhaftigkeit geschriebener Sprache wird erkannt und angewandt. Blinde Kinder und Jugendliche müssen neben den orthographischen Regeln der Schwarzschrift weitere Braille-spezifische Regeln (je nach Schriftsystem) erlernen, denn Vollschrift, Kurzschrift, Mathematikschrift, Musikschrift,… sind aus den gleichen Brailleschriftzeichen aufgebaut und unterscheiden sich nur den Kontext in dem sie verwendet werden.
Diese Phase stellt bei blinden Kindern keine neue Erwerbsstrategie dar, vielmehr ist hier die Automatisierung und weitere Aneignung der Strategien aus der orthographischen Phase zu sehen. Leseverständnis und Lesegeschwindigkeit werden weiter verbessert, die Anwendung des orthographischen Regelwerks der Schriftsprache automatisiert.
Günther, K-B. (1986). Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: Brügelmann, H. (Hrsg.), ABC und Schriftsprache: Rätsel für Kinder, Lehrer und Forscher (32-54). Konstanz: Faude.
Hoffmann, M. H. G. (2001). Peirces Zeichenbegriff: seine Funktionen, seine phänomenologische Grundlegung und seine Differenzierung https://works.bepress.com/michael_hoffmann/18/ (abgerufen am 17.07.2017)
Lang, M. (2011). Lesen und Schreiben. In M. Lang, U. Hofer & F. Beyer (Hrsg.), Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Band 2: Fachdidaktiken. (S. 15-54). Stuttgart: Kohlhammer
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