Theorie der funktionellen Systeme nach Lurija

Zitiervorschlag: Brandstetter, R. (2018): „Theorie der funktionellen Systeme nach Lurija.“ Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:grundlagen:luria, CC BY-SA 4.0

Die Theorie der funktionellen Systeme geht u.a. auf Alexander R. Lurija zurück (Mitbegründer der Neuropsychologie). Lurija fasst die Funktionen des Gehirns in drei funktionalen Systemen (Blöcke) zusammen. Trotz der Unterscheidung in drei Blöcke lag sein Schwerpunkt in der Betrachtung der Integration und gegenseitigen Abhängigkeit der Blöcke, die erst im Zusammenspiel komplexes Verhalten ermöglichen.

„Jede bewusste Tätigkeit stellt ein komplexes, dynamisch organisiertes, funktionelles System dar, für dessen Zustandekommen, die intakte Zusammenarbeit aller drei (…) Hirneinheiten eine notwendige Voraussetzung ist“ (Deegener 1992).

Im Bereich der Funktionen unterscheidet Lurija zwischen einfachen Funktionen und funktionellen Systemen. So erfüllen bestimme Gewebearten einfache Funktionen (Leber - Gallenflüssigkeit; Bauchspeicheldrüse - Insulin). Bei komplexen körperlichen Abläufen kommt es zu einem Zusammenspiel unterschiedlicher physiologischer Prozesse (bspw. Atmung oder Verdauung), die ein vollständiges funktionelles System darstellen. Bei Ausfällen können komplexe Systeme teilweise Kompensationsleistungen erbringen. Lurija verwendet die Theorie der komplexen funktionellen Systeme auch für die Lokomotion und komplexe psychische Tätigkeiten (Wahrnehmen, Erinnern, Sprechen, Denken).

Geistige Prozesse lassen sich nach Lurija nicht einfach lokalisieren, sondern weisen eine besonders komplexe Struktur auf. Hinzu kommt, dass durch die Lebensprozesse es zu Auswirkungen auf die geistigen Prozesses kommt (vgl. Kölbl, C. 2006).

„Deshalb können psychische Funktionen als funktionelle Systeme nicht in engen Zonen des Kortex oder in isolierten Zellgruppen lokalisiert werden. Sie müssen sich vielmehr in Systemen gemeinsam arbeitender Bereiche organisieren, von denen jeder seine Rolle in einem vielschichtigen Zusammenhang spielt. Dabei mögen diese Bereiche in unterschiedlichen und oft in weit auseinander liegenden Gehirnregionen liegen“ (Lurija 1998).

Er traf eine Unterscheidung in:

I. Einheit zur Steuerung von Tonus und Wachheit (Einheit der Aktivierung)

- verortet in den oberen Schichten des Hirnstamms, Zwischenhirn sowie formatio reticularis (Incl. Thalamus). Die Steuerung von Tonus und Wachheit ist die Grundvoraussetzung für ein waches, aktives Leben.

Zur Aktivierung tragen folgende Faktoren bei:

II. Einheit zur Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung der von der Außenwelt eintreffenden Information (Einheit der Orientierung)

- verortet im Parietal-, Temporal-, Okzipitallappen

Man kann hier primäre, sekundäre und tertiäre Zonen der Kortex unterscheiden, die für die genannten Aufgaben zentral sind.

Beispiel Sehen: Informationen gelangen zunächst von der Netzhaut über Nervenfasern in die Sehrinde (primäre, kortikales Sehzentrum). Dort werden die Informationen in kleinste Bestandteile zerlegt, die an das sekundäre Sehzentrum (obere Schichten der Großhirnrinde) weitergegeben werden. Die analysierten Merkmale eines Objekts werden hier in vollständige Strukturen umgewandelt. In den tertiären Zonen der Hirnrinde (kognitiver Teil des Gehirns) werden visuelle, tast-motorische und audio-vestibuläre Informationen zusammengebracht.

Informationen und Muster werden hier

Es erfolgt eine Umsetzung von konkreter Wahrnehmung in abstraktes Denken, je nach Entwicklung des Kortex.

Bei Kleinkindern überwiegt die modalitätsspezifische Aufnahme und Verarbeitung, in der kindlichen Entwicklung werden zunehmend verschiedene Modalitäten simultan integriert. Bei Jugendlichen und Erwachsenen werden Informationen i.d.R. modalitätsübergreifend verarbeitend.

Diverse Entschlüsselungs- und Verschlüsselungsprozesse erfordern ein zwischengeschaltetes Speichersystem (Arbeitsgedächtnis).

Beeinträchtigungen von Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozessen, von Lese-/ Rechtschreibprozessen sowie Rechenprozessen sind hierüber erklärbar.

III. Einheit der Programmierung, Steuerung und Kontrolle psychischer Tätigkeit (Einheit der Handlung)

- verortet im Frontallappen

Hier werden motorische, sprachliche und kognitive Beeinträchtigungen sichtbar.

Alle drei funktionalen Einheiten sind an jeder Form psychischer Prozesse in unterschiedlicher Gewichtung beteiligt. Die Lokalisation höherer Prozesse wie z.B. der Prozess des Schreibens ist also als dynamische Lokalisation zu verstehen, die variable Verknüpfungen zulässt und sich im Lauf der Entwicklung verändert.


Zentrale Botschaften von Lurija:


Literatur

Deegener, G., Dietel, B., Kassel, H., Matthaei, R. & Nödl, H. (1992). Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen. Handbuch zur TÜKI. Weinheim: Psychologie Verlags Union

Kölbl, C. (2006). Die Psychologie der kulturhistorischen Schule. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Lurija, A. R. (1984). L. S. Wygotski und das Problem der funktionalen Lokalisation. In: Jantzen, W. & Feuser G. (Hrsg.), Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie IV, (15-23). Köln: Pahl Rugenstein Verlag

Lurija, A. R. (1998). Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Reinbek: Rowohlt Verlag


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