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Verstehensorientierung im Mathematikunterricht

Zitiervorschlag: Marx, C., Stecher, M. (2021). „Verstehensorientierung im Mathematikunterricht“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:didaktisierung:verstehensorientierung_m, CC BY-SA 4.0

Im Sinne der mathematical literacy ist Mathematiklernen dann nachhaltig, wenn Lernende mathematische Sachverhalte gezielt und reflektiert einsetzen können, um alltägliche Phänomene, Probleme und Herausforderungen mit mathematischen Mitteln lösen zu können. Dies ist nur dann möglich, wenn sie sowohl konkrete mathematische Gesetzmäßigkeiten beherrschen, sie diese funktional anwenden, reflektiert und bewusst einsetzen und in verschiedenen Kontexten anwenden können (vgl. OECD 2003).
Mathematikunterricht muss dementsprechend sowohl inhalts- als auch prozessbezogene Kompetenzen fördern und fordern, indem die Schüler:innen nicht nur mathematische Verfahren reproduzieren, sondern indem sie „verstehen“ lernen (Selter & Zannetin 2019), sie sich also ein Wissen aneignen, das auf dem Verständnis grundlegender mathematischer Zusammenhänge fußt (vgl. Hußmann & Nührenbörger et al 2014).
Insbesondere bei Kindern mit Schwierigkeiten im Bereich Mathematik sollte deshalb die Förderung mathematischer Kompetenzen stets an den Verstehensgrundlagen ansetzen, indem „neben der Aneignung von Rechenfertigkeiten auch ein Schwerpunkt auf das Verstehen mathematischer Inhalte (Begriffe, Operationen…)“ gelegt wird (Prediger 2014).
Unterricht sollte demzufolge neben der Förderung von Rechenfertigkeiten einen verstehensorientierten Zugang zu mathematischen Themen ermöglichen und einen Schwerpunkt auf den Austausch über Denk- und Vorgehensweisen legen, sodass Einsichten und Vorstellungen entwickelt werden können. Dabei sollten immer die Lösungsprozesse fokussiert werden, während die Ergebnisse eher in den Hintergrund treten (vgl. Selter & Prediger et al 2015).
Ein nachhaltiger Aufbau tragfähiger, mathematischer Vorstellungen orientiert sich also am Prinzip der Verstehensorientierung, indem „strukturelle, innermathematische Vorstellungen und Darstellungen“ (Selter & Prediger 2015) erfasst und angebahnt werden. Um darzustellen, wie im Unterricht eine solche Verstehensorientierung angebahnt werden kann, muss man sich zunächst den Unterschied zwischen Verfahrens- und Verstehensaufgaben bewusst machen.


Verfahrens- versus Verstehensaufgaben

Wie im folgenden Beispiel zu sehen ist, sind Verfahrensaufgaben dadurch gekennzeichnet, dass die Schüler:innen beim Lösen dieser Aufgabe auf rein algebraische, inhaltsbezogene Fertigkeiten zurückgreifen und sie dieses Wissen reproduzieren.


Beispiel für eine Verfahrensaufgabe

Zitiervorschlag: Grafik „Verfahrensaufgabe“ von Albrecht, C. (2022). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:didaktisierung:verstehensorientierung_m#verfahrensaufgabe, CC BY-SA 4.0


Tauchen jedoch Fehler auf, erlaubt es die Struktur der Aufgabe der Lehrperson im Rahmen der Fehleranalyse nicht, zu erkennen, welche Strategien und Lösungswege genutzt wurden und ob das Konzept hinter den überprüften Aufgaben erfasst wurde (vgl. Büchter & Leuders 2008).

Anders verhält es sich bei Verstehensaufgaben, wie in folgender Abbildung zu erkennen ist, bei denen Schüler:innen ihre Vorstellungen und Gedanken zu mathematischen Sachverhalten in kommunikativen Situationen offen legen sollen.


Beispiel für eine Verstehensaufgabe

Zitiervorschlag: Grafik „Verstehensaufgabe nach Leuders“ von Albrecht, C. (2022). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:didaktisierung:verstehensorientierung_m#verstehensaufgabe_nach_leuders, CC BY-SA 4.0


Das Lösen dieser verstehensorientierten Aufgabe erfordert neben bestimmten Rechenfertigkeiten auch eine Reflexion der Situation: Welche Teilbarkeiten sind wichtig, welche nützlich? Wie viele Teile sind überhaupt praktikabel? Schließlich hat die Aufforderung, einen begründenden Text zu verfassen, das Ziel, nicht nur die Ergebnisse, sondern ebenfalls die Problemlöse- und Argumentationsprozesse zu reflektieren (Leuders 2011). Aufgaben, die auf Verstehensorientierung abzielen, regen die Schüler:innen also einerseits dazu an, mathematische Inhalte reflektiert einzusetzen, andererseits werden sie dazu angeregt, ihren Gedanken- und Lösungsweg offenzulegen. Internationale Vergleichsstudien bestätigen, dass „deutsche Schüler:innen ihre relative Stärke bei technischen Routineaufgaben haben, (es ihnen aber) an Fähigkeiten zur Modellierung komplexer innermathematischer Kontexte, also an Strategien zum reflektierten Umgang mit offeneren Situationen“ fehlt (Leuders 2011). Aus diesem Grund soll im Mathematikunterricht vermehrt das oben beschriebene Konzept der Verstehensorientierung berücksichtigt werden.


Verstehensorientierung im Mathematikunterricht

Um Verstehensorientierung im Unterricht umzusetzen und zu ermöglichen und umzusetzen, werden bei der Planung von Mathematikunterricht drei didaktische Leitideen handlungsleitend (vgl. Hußmann & Nührenbörger et al 2014):

Verankert man diese drei Prinzipien im Mathematikunterricht, werden kumulative und kommunikative Lernprozesse möglich, die ein nachhaltiges Verständnis mathematischer Strukturen ermöglichen.
Aus diesen Leitideen lassen sich schließlich weitere spezifisch methodisch-didaktische Prinzipien, wie unter anderen z.B. eine Verknüpfung prozess- und inhaltsbezogener Kompetenzen, die bewusste Gestaltung eines sprachsensiblen Mathematikunterrichts, oder der bewusste Einsatz von Darstellungsmitteln, ableiten.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Mathematikunterricht nicht nur das Training von Rechenfertigkeiten, sondern auch der Aufbau eines tragfähigen, nachhaltigen und konzeptionellen Verständnisses von Mathematik sowie „eine verstehensorientierte Verankerung des Umgehens mit Fehlern“, Aufgaben und Lösungsprozessen bedeutsam ist (Prediger & Selter 2014).


Weiterführende Informationen

Primakom: Verstehensorientierung


Literatur

Büchter, A. & Leuders, T. (2008). Leistungen verstehensorientiert überprüfen. Gute Aufgaben für Klassenarbeiten entwickeln. In: Bruder, R. & Büchter, A. et al (Hrsg.) Mathematikunterricht entwicklen. Berlin: Cornelsen Skriptor

Hußmann, S. & Nührenbörger, M. et al (2014). Schwierigkeiten in Mathematik begegnen. In: Praxis der Mathematik in der Schule 56/2014

Leuders, T. (2011). Nachdenken geboten – Unterrichtskonzepte zur Förderung selbständiger Reflexion im Fach Mathematik. https://home.ph-freiburg.de/leudersfr/preprint/2010_leuders_nachdenken_geboten_vorfassung.pdf

OECD (2003). The Pisa 2003 Assessment Framework – mathematics, reading, science and problem solving knowledge and skills. http://www.oecd.org/education/school/programmeforinternationalstudentassessmentpisa/33707192.pdf.

Prediger, S. & Selter, C. (2014). Mathematikdidaktisches Update in der Ausbildung zum Fachunterrichtscoach – Konzeptioneller Rahmen, Inhalte und Gestaltungsprinzipien. In: Hirt U & Mattern K (Hrsg.) Coaching im Fachunterricht. Weinheim/Basel: Beltz

Selter, C. & Zannetin, E. (2019). Mathematik unterrichten in der Grundschule. Seelze: Kallmeyer

Selter, C. & Prediger, S. et al (2015). Mathe sicher können. Handreichung für ein Diagnose- und Förderkonzept zur Sicherung mathematischer Basiskompetenzen. Berlin: Cornelsen


Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg