Zitiervorschlag: Rauner, R., Stecher, M. (2021). „Sprachsensibler Mathematikunterricht“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:didaktisierung:sprachsensibler_mathematikunterricht, CC BY-SA 4.0
Mit der stärkeren Berücksichtigung der prozessbezogenen Kompetenzen im Bildungsplan 2016 erfährt auch der Mathematikunterricht in zunehmenden Maße Versprachlichung.
„Um die beschriebenen Kompetenzen herauszubilden, ist die Versprachlichung von mathematischen Sachverhalten für das Lernen von grundlegender Bedeutung. Sie beginnt bei der Beschreibung von Handlungen, Vorgehensweisen oder Lösungswegen mithilfe der Alltagssprache der Kinder und führt allmählich zur formalen Sprache der Mathematik. Sprachliche Kompetenzen werden insbesondere beim Kommunizieren und Argumentieren gefordert und gefördert.“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016)
Sprache ist demnach auch im Mathematikunterricht ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg und Schwierigkeiten im (fach-)sprachlichen Bereich können Schüler:innen daran hindern, ihre vorhandenen mathematischen Fähigkeiten zu zeigen (Abshagen 2015).
Mathematikunterricht zeichnet sich durch ein hohes Maß an Fachsprache aus, welche vor allem durch eine Vielzahl spezifischer fachlicher Ausdrücke charakterisiert ist (Meyer & Prediger 2012).
Der Fachwortschatz umfasst Wörter:
Der Aufbau einer fachgebundenen Sprache beinhaltet allerdings mehr als den bloßen Erwerb von Fachtermini. Über die rein fachbezogenen Begriffe und Ausdrücke hinaus geht es um einen ganz bestimmten Sprachduktus, es geht um die so genannte Bildungssprache. Unter Bildungssprache versteht man im Allgemeinen den für schulische Kommunikation charakteristischen Sprachgebrauch, von dem angenommen wird, dass er sich im Vergleich zur Alltagssprache z.B. durch einen anspruchsvolleren Wortschatz, eine komplexere Grammatik und eine geringere situative Einbettung auszeichnet (Heppt et al 2012).
Die nachfolgenden sprachlichen Ausdrücke illustrieren exemplarisch die unterschiedlichen Sprachregister (Meyer & Prediger 2012) und deren Merkmale (Abshagen 2015):
Alltagssprache | Bildungssprache | Fachsprache |
---|---|---|
Gestern war Schlussverkauf und ich war in meinem Lieblings-Klamottenladen einkaufen. Bei der Hose habe ich zehn Euro Prozente bekommen. Und weil ich direkt bezahlt hab, hat der Verkäufer den bereits gesenkten Preis nochmal um drei Prozent reduziert. Dann habe ich 77,50 Euro bezahlt. - Oft nur aus der Situation heraus verständlich (kontextgebunden) - Eher kurze, mitunter unvollständige Sätze - Geringer Wortschatz - Eignet sich für die Kommunikation in der Familie, mit Freunden, auf der Straße | Im Schlussverkauf wurde auf die UVP einer Hose 10 € Rabatt gegeben und wegen Barzahlung wurden auf den neuen Preis 3% Skonto nachgelassen. - So betrug der Verkaufspreis schließlich 77,50 €. - An Schriftsprache angelehnt (geredet wie gedruckt) - Ohne Vorkenntnis des Zusammenhangs verständlich - Komplexe, vollständige Haupt- und Nebensätze - Umfangreicher Wortschatz - Verwendung schwieriger grammatischer Strukturen -Sprache der Schule, damit können anspruchsvollere Kontexte beschrieben werden | Wird der Grundwert um 10 € und um weitere 3 % vermindert, ist der Prozentwert 77,50 €. -Teil der Bildungssprache - Enthält viele Fachbegriffe und fachsprachliche Redewendungen - Ist oft sehr knapp - Sprache der Wissenschaft, präzise, eindeutig und abstrakt - Muss wie eine Fremdsprache gelernt werden |
Ein sprachsensibler Mathematikunterricht setzt sich daher mit der Frage auseinander, wie es gelingen kann, dass Sprache kein Lernhürde darstellt, sondern als Lernmedium im Unterricht genutzt werden kann. Hierzu ist es unerlässlich, auch die Sprache selbst zum Lerngegenstand des Mathematikunterrichts zu machen (vgl. Wessel 2016). Folgende Bereiche sind hierbei von besonderer Relevanz:
Im Rahmen eines sprachsensiblen Mathematikunterrichts ist die bewusste Gestaltung der Lehrer:innensprache von zentraler Bedeutung. Die Lehrer:innensprache hat hierbei einen Vorbildcharakter.
Folgende Qualitäten einer guten Lehrer:innensprache (vgl. Stecher & Rauner 2019) sind hierbei von besonderer Relevanz:
Lehrpersonen sollten ihre Sprache reflektiert einsetzen und die benötigten fachsprachlichen Ausdrücke möglichst schon bei der Unterrichtsplanung analysieren. Wann immer Schüler:innen mathematische Aufgaben oder Handlungen mit ihrer Alltagssprache beschreiben, hat die Lehrperson die Möglichkeit, diese Beschreibungen durch Fachsprache anzureichern. Sprache wird so zum Lerngegenstand: Denkprozesse sollen von den Schüler:innen angemessen und nachvollziehbar dargestellt werden können, Sachverhalte beschrieben und begründet, ein Austausch mit anderen Schüler:innen über mathematische Probleme ermöglicht werden. Nur durch die regelmäßige Nutzung von Fachsprache gelingt es Kindern, ihre Alltagssprache zunehmend durch den neuen Wortschatz der Fachsprache zu ersetzen.
Um mit Schüler:innen an ihrem Fachwortschatz arbeiten zu können, müssen der Lehrperson selbstverständlich die Lernvoraussetzungen der Schüler:innen im Bereich Wortschatz bekannt sein.
Wie relevante Fachbegriffe im Klassenzimmer mit Hilfe eines sogenannten Wortspeichers visualisiert werden können, zeigt das folgende Beispiel: Die Schüler:innen einer zweiten Klasse setzen sich mit dem Aufgabenformat Zahlenmauern auseinander. Hierbei geht es allerdings nicht um die Zahlenmauer als reines Übungsformat für die Addition und Subtraktion, vielmehr sollen die Schüler:innen ihre Rechen- und Lösungswege mit Hilfe mathematischer Fachsprache beschreiben und erklären. Hierfür ist ein spezifischer Wortschatz unerlässlich, der z. B. folgende Begriffe beinhaltet: links, rechts, von unten, von oben, darunter, darüber, Deckstein, Grundstein, Mittelstein.
Zitiervorschlag: Grafik „Aufgabenformat Zahlenmauer“ von Albrecht, C. (2022). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:didaktisierung:sprachsensibler_mathematikunterricht#aufgabenformat_zahlenmauer, CC BY-SA 4.0
Dieser spezifische Wortschatz wird bereits bei der Einführung des Aufgabenformates aufgegriffen und an einer großen Zahlenmauer auf der Tafel gut sichtbar visualisiert, so dass die Schüler:innen beim Austausch über Zahlenmauern mit ihren Mitschüler:innen auf die Visualisierung zurückgreifen können. Wenn es im Folgenden nicht nur um die Steine als solche oder die Lösungswege zum Berechnen einer Zahlenmauer geht, sondern beispielsweise das Vertauschen der Grundsteine in den Blick genommen wird, werden über die beschriebenen Fachbegriffe hinaus auch Satzstrukturen wichtig (z. B. wenn…, dann…).
Mögliche Übungsformen zum fachspezifischen Wortschatz sind: Text- oder Satzpuzzle, Lückentexte, Fehlersuchen, Domino usw.
Über im Klassenzimmer vorhandene Visualisierungen zum Wortschatz hinaus können den Schüler:innen weitere Hilfen für das Versprachlichen erkannter mathematischer Sachverhalte angeboten werden, vor allem, wenn Kinder ihre Vermutungen, Lösungswege usw. verschriftlichen sollen. Als sprachliche Hilfen können im Rahmen einer qualitativen Differenzierung beispielsweise Satzanfänge, ein Lückentext, Auswahlantworten, ein Auswahlwortschatz oder ein ganzer Beispieltext (Vorbildtext) sein.
Selbstverständlich muss zu den drei oben genannten Bereichen regelmäßig eine Metareflexion (z. B. im Anschluss an eine Rechenkonferenz oder eine, Schüler:innenpräsentation) hinzukommen, so dass die Schüler:innen ein konstantes Feedback dazu erhalten, ob mathematisch und sprachlich verständlich war, was sie ausdrücken wollten und es ihnen gelungen ist, mit Hilfe mathematischer Fachsprache die betreffenden mathematische Sachverhalte angemessen darzustellen.
Zusammenfassend: Sprache kann als Lernhürde nur dann beseitigt und zum adäquaten Lernmedium werden, wenn sie auch zum Lerngegenstand gemacht wird. Auch sprachlich kompetente Kinder profitieren von einem sprachsensiblen Unterricht, da auch sie die mathematische Fachsprache erlernen müssen.
Abshagen, M. (2015). Praxishandbuch Sprachbildung Mathematik. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen
Heppt, B., Dragon, N. et al (2012). Beherrschung von Bildungssprache bei Kindern im Grundschulalter. Kurzbeiträge Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 3, (S. 349 – 356).)
Lange, S. (2017). Fachsprache lernen, üben, anwenden. In: Grundschulmagazin 1/2017.
Leuders, T. & Prediger S. (2016). Flexibel differenzieren und fokussiert fördern im Mathematikunterricht. Cornelsen-Verlag.
Maier, H. (1999). Mathematik und Sprache: zum Verstehen und Verwenden von Fachsprache im Mathematikunterricht. In: Mathematik für Schule und Praxis Wien: Öbv&hpt.
Meyer, M. & Prediger, S. (2012). Sprachenvielfalt im Mathematikunterricht - Herausforderungen, Chancen und Förderansätze. in: Praxis der Mathematik in der Schule, 54(45). http://www.mathematik.uni-dortmund.de/~prediger/veroeff/12-Meyer_Prediger_PM-H45_Webversion.pdf
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2016). Bildungspläne der allgemeinbildenden Schulen. Grundschule
Pikas. Deutsches Zentrum für Lehrerbildung Mathematik: Modul 4.1: Sprachförderung im Mathematikunterricht unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Probleme von Kindern im Zweitspracherwerb. http://pikas.dzlm.de/
Stecher, M. & Rauner, R. (2019). Qualitäten einer guten Lehrersprache. In: Unterrichtsqualität im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation. Heidelberg: Median Verlag.
Wessel, L. (2016). Sprachsensibler Mathematikunterricht. Vortrag Fachtag „Mathe für alle“, PH Freiburg
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg